• Wie vorgestern angedeutet, bin ich ein eher gleichgültiger Besucher von Weihnachtsmärkten; kaum, dass ich mal eine Freundin auf einen Nachmittag durch die Buden begleite. Kölner Dom und Eingang zum MarktAußerdem dachte ich, in Köln ginge das Treiben der Händler im und vor dem Tempel so recht erst mit dem ersten Advent los - weit gefehlt, denn auch hier eröffneten letztes Wochenende die Geschäfte, über die Titanic lästerte: "Die Anleger stehen Schlange, um in verkohlte Bratwürste, versalzene Champignonpfannen und verranzte Batiktücher zu investieren. Dabei wird es ihnen nicht gerade leicht gemacht: An den Gebrannte-Mandeln-Buden gibt es so manche harte Nuß zu knacken, und wegen der überhitzten Konjunktur drohen mancherorts Investitionsstaus, besonders bei Crêpes und Gürtelschnallen mit Harley-Davidson-Logo. Gegen Abend geraten die Märkte dann überall ins Trudeln. Denn auch die Verbraucher legen ihre Konsumzurückhaltung ab und machen ihr Erspartes flüssig – erst an den Glühweinständen, anschließend dahinter." - Und nun sehe ich mich zum eigenen Erstaunen schon zum zweiten Mal in diesem Jahr auf einem Weihnachtsmarkt schlendern, in Begleitung meiner Liebsten, die wenig Lust auf Glühwein, aber Appetit auf eine Frittatensuppe verspürte. Kurz zuvor waren wir im Museum Ludwig gewesen, bei einer Führung durch die Ausstellung "Ich und ich und ich". Sie zeigt Fotografien von Picasso (nicht solche, die er geknipst hat - falls er je fotografiert hat, wurde das verschwiegen -, sondern mit ihm als Motiv), und standen noch ganz unter dem betäubenden Eindruck kubistischer Farben und Formen der Picasso-Abteilung, Sternenzelt am Weihnachtsmarktdurch die wir in der letzten Viertelstunde vor Schließung des Museums noch eilen mussten. Komischerweise kann ich nach Picasso keinen Dalì mehr sehen, obwohl er unzweifelhaft ein Genie ist, aber nach Picassos leicht-luftig-spielerisch hingeworfenen Konturen und Gesichtern und Stilleben etc. wirkt die handwerkliche Meisterschaft, ja Exzellenz Dalìs irgendwie kleinlich. Seine Bilder, die ich ohne vorherige Picasso-Sichtung atemberaubend großartig finde, bedrücken den Betrachter durch ideologischen Krampf. Übrigens sind die Fotos, die Picasso zeigen, fast ausschließlich Stand der Anonymen Alkoholiker am Weihnachtsmarktschwarz-weiß und gelegentlich auch ziemlich verkrampft, z. B. waren die Porträts von Man Ray ein durchsichtiger Versuch, aus dem katalonischen Zeichenlehrerssohn den avantgardistischen Heros schlechthin zu stilisieren. Rays Bearbeitungen von Originalfotos sind zu sehen, bei denen der Aschenbecher (den der kettenrauchende Picasso andauernd benötigte) herausgefiltert wurde, und die mit Licht konturierten Seitenprofile des Meisters hätten jeder NS-Illustrierten als Titelbild Ehre gemacht. Wie Bertolt Brecht putzte sich Picasso für jedes Foto eigens heraus, machte Faxen und Grimassen, von beiden gibt es kaum Bilder, auf denen sie "gewöhnlich" oder auch nur wie ganz normale Zeitgenossen aussehen. Bei Picasso sind es übrigens die wenigen Farbbilder aus dem Alter, da wirkten selbst die magischen Maleraugen nicht so schwarzglänzend, die ganze Figur sah ein bißchen aus wie ein (beleibterer) Werner Finckh! Schaute er in die Kamera, war das fast immer eine Session zur Selbstinszenierung. Er liebte die Hüte, die ihm seine Besucher mitbrachten, zB. Gary Coopers Cowboyhut. - Nun wollten wir noch den Film Testament des Orpheus sehen, von Jean Cocteau (der Picasso schon in den zehner-zwanziger Jahren des 20. Jhds. fotografiert hatte), aber der lief erst 19.00 an und uns blieb eine Stunde zum Flanieren. Und da war ich denn doch beeindruckt von dem sternenglänzenden Himmel, der vor dem Museum das Weihnachtsmarktgeschehen und den gesamten Roncalliplatz überwölbt. In Wahrheit ist das Lichterzelt der Petticoat des aus zahlreichen Einzelbäumen getürmten Riesen-Tannenbaums, der in der Mitte steht. In der Mitte eine Bühne, auf der sanfter und gar nicht unebener Jazz geswungen wurde. Ein mächtiger Arc de Triomphe aus LED-Kerzchen am Eingang, verstellt von Rädern, die ja auch irgendwo geparkt werden müssen. Selbst die Buden todschick gestylt, edles Mahagoni, möchte man meinen, und erst das Angebot, da scheint man wohl den gröbsten Kitsch durch gnadenlose AuswahBühne mit Jazzband auf dem Weihnachtsmarktl rausgehalten zu haben. Kunstwerk vor dem Museum LudwigOffenbar hat sich herumgesprochen, dass die vielen Holländer und Engländer, die Köln zum Einkaufsbummel besuchen, doch etwas anspruchsvollere Kunden sind als man früher dachte. Natürlich bot man das übliche Sortiment an: Karten, Kerzen, Kugeln, Mobilés, kunstgepunzte Türschilder mit Namensgravur (bis 20 Buchstaben kostenfrei, würde für unsere beiden Vor- und Nachnamen nie reichen), Nußknacker, Holzfigürchen, Vogelstimmenflöten, Trüffelpralinen, Briefbeschwerer, Tischflammenwerfer als Kaminersatz und jede Menge anderen Plunder, aber alles einigermaßen gute Qualität, wie es schien; selbst das gastronomische Angebot war interessant: Fried Fish (englisch beschildert) wurde aus zertifiziert überfischungs-geschützten Gewässern mit "organic remoulade sauce" angeboten, "in an organic role", aber viel los war nicht an dieser Bio-Theke. Mehr Leute entschieden sich für eine standby-Fondue, die in kleinen Plastikschüsseln im Körbchen serviert wurde. Und am Österreicher-Bergwelt-Stand, wo die Köche und Serviermänner alle komische Wildererhüte trugen (die Frauen waren davon entpflichtet, wie es schien), verzehrte ich einen Germknödel und meine Liebste ihre Suppe. Lustig und eigentlich traurig (wir einigten uns dann auf: "zielgruppengerecht") war der "Aktionspavillon", den sich die Anonymen Alkoholiker neben dem umlagerten Glühweinstand gesichert hatten. Es gab allerdings an manchen Buden alk-freien Autofahrerpunsch, den christmas market addicted teachers beim Klassenausflug den StudierendenPicasso von vorn spendieren könnten. Wir spazierten nach dem Knödel- bzw. Suppenverzehr noch über die Plattform hinter dem Römisch-GePicasso seitlichrmanischen Museum, wo sich schon wieder ein temporäres Kunstwerk breit macht, diesmal ein weißlackierter Pinocchio auf einem hohen Stuhl unter einer periodisch aus- und angehenden weißen Laterne, und was sehe ich, an die Laterne wurde eine Leuchtreklame-Zigarette montiert. Überall ist die Nikotinwerbung verboten, nur nicht in der modernen Kunst und in der französischen Cinéasten-Filmszene. (Auch im "Casablanca", wo ich neulich aufspielen durfte, ist leider noch bis 31. Dezember das Rauchen erlaubt, dann endet die NRW-Toleranz gegenüber fingierten "Raucherclubs".) Denn es war auch bald Zeit, in die ehemalige Cinemathek zu gehen bzw. deren Ausweichquartier, das nach dem frühen Ableben des Leiters der Cinemathek schwuppdiwupp zum Museum Ludwig eingemeindet wurde und heute nur noch künstlerisch hochwertige Filmkunst zu teuren Eintrittspreisen zeigt. Szene aus dem Testament des OrpheusUnd da begegnete uns nicht nur ein sichtlich gealterter, aber immer noch von schönen Jünglingen umgebener (hier: Edouard Dermit) Cocteau, natürlich schwarz-weiß, und dieser, na, wie heißt er noch, der ältere Herr da auf dem Bild, den dritten von links meine ich, der kahlköpfige Renter mit Schwiegersohn und Enkeltochter hinter der lametta-behangenen Absperrung der Weihnachtsmarkt-Arena von Kölle, es will mir nicht einfallen, wem sieht er denn ähnlich, ach ja, hier schaut er einen von vorn an: Paul Ruíz! Andere gute alte Bekannte, die auf der Leinwand erschienen, waren z. B. Yul Brunner, Charles Aznavour, Maria Casarès (bekannt als dunkelhaarige Rivalin der Garence in Kinder des Olymp), Jean Marais (vom Orpheus zum Ödipus gewandelt) und der damals noch im Flegelalter befindliche Jean-Pierre Léaud. Der Film endete dann, indem die Blume, um die es in dem Dialog links im Bild ging, sich rot färbte wie das Blut des von Pallas Athene mit dem Speer rücklings aufgespießten Poeten. Und im Vorspann und Abspann die Lieblingsdroge der Surrealisten, natürlich auch während des Films von Cocteau in 19.-Jhd.-Kluft, von der Casarès weidlich genossen - Zigarettenrauch, in nikotingrauen Schwaden, geisterhaft wolkig aufblühend und ewig wandelbare Figuren bildend, die Picasso mit Licht, Cocteau mit Tafelkreide skizziert haben könnten.


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  • Zwar war ich in diesem Jahr mal wieder nicht auf der Buchmesse, mein letztes übersetztes Buch liegt ja auch über fünf Jahre zurück, aber zum bescheidenen Ersatz bin ich am Sonntag mit meiner persönlichen Art-Directorin ins Rechtsrheinische auf die Buchbindermesse gefahren. Im letzten Jahr war sie wegen des Umzugs leider nicht hingekommen. Daß es paper addicts gibt, weiß ich von mir selber, aber so einen Trubel rund ums Material, aus dem die Träume sind, hab ich mich nicht vorstellen können!Gremberger Bahndamm Es fing damit an, dass man in dieser (verhältnismäßig öden) Gegend, in die ein Alexander-von-Humboldt-begeisterter Industrieller eine Arbeitersiedlung setzte (im Geist der Humanität und Volksbildung, natürlich nach Feierabend und ohne vollen Lohnausgleich) und nach dem Namen seines Lieblingsschriftstellers benannt hat, nicht mal einen Parkplatz bekam. Köln gemeindete diese Gegend 1888 ein und ist damit die einzige mir bekannte Stadt mit einem Viertel namens Humboldt (Städte, die so heißen, gibt's in Südamerika, USA und Australien genug, und "zahlreiche Gewerkschaften...erhielten Benennungen nach Humboldt", heißt es in dem Werk "Werk und Weltgeltung", aber damit sind bergrechtliche Kapitalgesellschaften gemeint). Da aber die Fabrik unter dem alten Namen (Klöckner Humboldt Deutz) Papiermesse in Kölnein Milliardengrab geworden ist und inzwischen nur noch Deutz AG heißt, nennt man das Viertel heute Humboldt-Gremberg. Uns fielen jedenfalls am Bahndamm der Lüderichstraße (Lüderich = Bergbaugebiet im Bergischen) die merkwürdigen Kacheln mit Adlern und kölner Wappen auf, Messehalle für Buchbinderoffensichtlich aus Keramik und irgendwann restauriert, aber ihr Geheimnis habe ich noch nicht lüften können, Google weiß auch nicht alles!
    Alles, was über Buchbinderei, Papier, Linnen und Leder Bescheid weiß, hatte sich aber in der winzigen Grundschule versammelt, in der man schon 2,50 Eintritt zahlen musste, um auch nur die heiligen Hallen betreten zu dürfen. Einen Sitzplatz in der Caféteria konnte man damit nicht erkaufen, die war knüppelvoll und blieb es, und die Schulkorridore und Klassenräume wimmelten vor Bücherwürmern. MelkpakboekjeDie Schöpfung aus PapierJeder durfte mal versuchenDiese Buchbinder-Messe ist merkwürdigerweise eine Erfindung der Niederländer und findet jährlich, aber nicht bei denen (klar, die wollen ihr Zeug anderswohin verscherbeln), sondern in Sint Niklaas (Belgien) und eben in Keulen statt. Kaum hatten wir die Kasse passiert, da kriegte meine Begleiterin auch schon so ein merkwürdiges Funkeln in den Augen (wie die Fensterscheiben brennender Irrenhäuser, hätte Arno Schmidt gesagt), und nun wurden Ballen & Auslegeware angefasst und umgelegt und Farbe, Riffelung, Laufrichtung und Einschlüsse begutachtet. Wasserzeichen selber setzenAngeblich hat man in China schon um 1000 v. Chr. Papyrusblätter zu einem Fasergeflecht verarbeitet, 60 v. Chr. gab es dort bereits Papier, und erst 800 Jahre später verrieten chinesische Gefangene das Geheimnis der Herstellung den Arabern. Bis dahin schrieb man jedenfalls im Mittelalter noch auf Kalbeshaut (die gab es hier auch, im ersten Stock). Wie alle Kölner erstmal nur auf Schnäppchen aus, hatten wir Glück: Schon im ersten Stockwerk verscherbelte einer "Restpapier" für 1,- € den Bogen, genau das erwünschte, "rough" und knitterig, mit unordentlichen Einschlüssen und Maserungen. Sonst konnte man hier gut und gerne fünf bis zehn Euro für gute anderthalb Quadratmeter Feinstpapier von köstlichster Glätte - bzw., für Erotomanen, mehr oder minder sanft gerillt, gerauht oder genoppt - ausgeben. Umweltpapier gab es auch, aber nur ganz vereinzelt in einer Ecke, denn die Fabrikation von farbigem oder auch weißem Papier, den Ökos sei's gestanden, ist eine wenig umweltfreundliche Angelegenheit, hat viel mit Chemie und Sauerei zu tun, weil man den Grundstoff (Lumpen, Altpapier) erstmal auflösen und zerstören muss.Anbietung: Kuhmagen! An den Marmorierungen konnte man sich allerdings kaum sattsehen! Die mit dem teuersten Papier, wo wir gern ein Blatt erstanden hätten, war hinterher nicht da, ihr Vertreter wußte nicht Bescheid und der Bogen, den wir wollten, war nur halb so groß, weshalb wir auch nur die Hälfte blechen wollten - da es nicht aufzuklären war, haEnzyklopädisten-Lederben wir Verzicht getan, selber schuld. Wir kauften 2 hübsche Blätter bei Franzosen aus Burgund. Natürlich wurde auch Papier hergestellt (eine ziemlich nasse Angelegenheit). Dass es anderersRochenhäute auf der Buchbindermesseeits Recycling von Müll und insofern doch nicht ohne Öko-Aspekte ist, sah man am nächsten Stand: Ein Asiate bot nicht nur Notizbüchlein & Portemonnaies aus gebrauchten Milchtüten an, der machte auch Papier aus allerlei Müllkram, sehr pittoresk anzuschauen. Erst wusch er die Milchkartons mit Seifenlauge und rubbelte dran, bis das Plastik abging. Dann kam der Papieranteil der Tüten in einen ordinären Mixer, um "Pulpe" zu erzeugen. Die wurde auf so eine Box mit Gitterfenster gelegt (er verkaufte die Kästen nebst Anleitung), nach einer Weile durchgeseiht und "gegautscht", d. h. was oben blieb, auf billigen Spültüchern getrocknet, er legte das Ergebnis dann auch noch in die Mikrowelle (die Holländerin, die dasselbe im Erdgeschoss unter Hinzufügung von Wasserzeichen unternahm, hatte eine Bügel-Plättpresse), um es zur Mitnehmreife zu trocknen. Natürlich wurde auch anderer Stadien der Buchherstellung gedacht - nur das Schreiben war etwas unterrepräsentiertMeßbuchbeschläge mit einem einzigen Kalligraphie-Stand - , beispielsweise gab es einen Experten für Beschläge, wie man sie von alten Meßbüchern kennt (er machte auch Familienwappen und Stammbäume). Es ist wirklich ein besonderer Menschenschlag, der sich hierher verirrt. Es scheint vor allem ein Frauen-Hobby zu sein (obwohl auch der eine oder andere bejahrte Papiermann oder Buchbinder hinter seiner Presse stand und aufpasste, den Graubart nicht einzuklemmen). Ich hörte junge Punkerinnen begeistert über Holzgehalt dieses oder jenes Bogens, über Flexibilität und Leimstärken reden. Bei einem Stand redete ich selbst drauflos und erklärte dem Pfälzer, der da "Beutelbücher" feilbot (wie sie auf mittelalterlichen Altarbildern die Pilger häufig tragen) die Sache mit den Bücherflüchen, dass man früher den "Kettenbüchern" in den Klosterbibliotheken auch gern mal eine Verwünschung einschrieb desjenigen BöseTierhautwichts, der das Buch trotz aller Verbote klaut, statt vor Ort zu lesen. Allerdings ist derjenige mehr zu fürchten, der brav bezahlt, aber das Geld auf verbrecherische Weise erwirbt - cave Magister Tinius! Alles lauschte aufmerksam, ich hatte sofort ein Publikum.
    Die Abteilung "Leder" war so recht etwas für Bucherotomanen, und ich freute mich, daß es nach Diderot benanntes Maroquain und Ziegenleder nach Art von d'Alembert gibt: peau de chagrin des encyclopédistes, das hätte mancher Kleriker des 18. Jahrhunderts gern mal angefasst! Schließlich gab es noch einen Stand, der eine "Anbietung" (nee, nicht "Anbetung der Hirten") vom Kuhmagen und  abgezogenes "Leder" vom Rochen feilbot. BuntbindfädenLetzteres eigne sich nicht so gut zum Buchbinden, belehrte mich eine junge Dame, weil die winzigen irisierenden Schuppen abplatzen, aber ihre Freundin, Goldschmiedin aus Düsseldorf, versicherte, man fertige der treue Hund des Lesebändchenflechtersbrauchbare Armbänder aus diesem Material. Ein paar Stände weiter saß übrigens ein Hund ganz brav unter dem Tisch eines Mannes, der Seidenbänder verkaufte (vielleicht sollen das Lesebändchen werden?), wie mancher Branchenkollege wird schon begehrliche Blicke auf das wirklich schöne Fell des Tiers - im Bild leider etwas verwackelt - geworfen haben. Nach ein, zBuchbindermesse, Workshopangebotwei Stunden verließen wir die Messe mit rollenweise Rohstoff unterm Arm, für Scherenschnitte, versteht sich. Ich habe mir aber auch für 3 € marmorierte Restpapierchen gekauft, die bei entsprechend großem Format für Bucheinbände alter Art geeignet gewesen wären, durch deren tintiges Gewölke ich bisweilen ins Lampenlicht schaue, und die gepünktelten sehen sommersprossig am ganzen Leibe aus, wie Schleien! Vielleicht kann man mal einen Brief auf die Rückseiten schreiben, oder das berühmte Gedicht von Gerhart Hauptmann in Schönschrift: "Ich bin Papier - du bist Papier. Papier - ist zwischen dir und mir. Papier - der Himmel über dir. Die Erde unter dir - Papier. Willst du zu mir und ich zu dir: Hoch ist die Mauer aus Papier! Doch endlich bist du dann bei mir, drückst dein Papier an mein Papier, so ruhen Herz an Herzen wir! Denn auch die Liebe ist Papier, und unser Haß ist auch Papier. Und zweimal zwei ist nicht mehr vier: Ich schwöre dir, es ist Papier!"


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  • Jetzt mußte ich mir doch mal eine Auszeit nehmen, um die brandneue Geburtstagskamera auszuprobieren. Eine "Nikon", deren Transferprogramm schon nicht mehr in den Macintosh paßt, den ich doch erst seit ca. 2 Jahren benutze, dafür brauch ich schon wieder einen neuen Computer... SchuhverkaufAber das ließ sich noch anderswie realisieren, und ich kann nun also die ersten Ergebnisse zeigen. Gestern hatte ich eigentlich ganz andere Probleme, ein wichtiges Arbeitsmittel ging kaputt und ich hätte mich um einen willigen Reparaturmenschen kümmern müssen - aber dann fiel mir ein, daß im Kölner Gürzenich mal wieder Schuhbörse ist, da kosten alle Schuhe so rund 5, 15, 25 oder 50 EUR, herabgesetzt von den fünfzig, hundert etc., die sie sonst kosten. Da ist jedesmal die Hölle los - es muß das Paradies sein für Diktatorenwitwen und Präsidentinnen. Daher fuhr ich mit der besten Ehefrau von allen zum Heumarkt, um mitzumischen, und siehe, ich hab auch ein schönes Paar gefunden, meine Liebste, die gar nicht gucken wollte in der Damenabteilung sogar 2 Paar, eins davon knatschorange in Leuchtfarben für sage und schreibe 5 EUR, meine haben immerhin 29,99 gekostet. Die Kartons kann man praktischerweise gleich dalassen und bekommt Plastiktüten für den Transport. Galerie am Heumarkt"Frauen beim Schuhkaufen sind Ichmenschen", behauptete der Mann an der Kasse (immerhin hat er mehr Erfahrung, da er die zwei Tage hier an der Kasse steht und wahrscheinlich bei ähnlichen Ramschverkäufen auch in anderen Städten). Er wollte damit erklären, warum im Handumdrehn ein solches Chaos entsteht, besonders in der Frauenabteilung, aber bei den Männern flogen auch viele Einzelschuhe in unterschiedlichsten Größen herum. Wir fuhren mit dem Bus wieder heim, wobei ich immer lachen muß, weil gegenüber der Bushaltestelle Heumarkt (die letzte vor Dom-Hauptbahnhof) die Galerie Zeugma liegt. An Stelle des Galeriebesitzers hätte ich mir ein anderes Ladenlokal gesucht, weit weg von irgendwelchen Gleisen, draußen an der Autostrada - oder einen anderen Namen. Demostrant in RaderbergDarauf läuft Böll-Architektur hinausDenn was macht der wütende Germanist, der den Bus verpaßt hat und hier sogleich einenen schönen Anlass für ein Zeugma erkennt? "Er schlägt die Scheibe und den Weg zum Bahnhof ein!" Wenn's hier also mal Glasbruch gibt... selbst schuld! - Schließlich haben wir uns für das Projekt "gebackene Leber" noch entsprechende Zutaten holen wollen und kamen nach Raderberg, wo der Einzeldemonstrant wie fast jeden Tag mal wieder vor der Kirche demonstrierte. Er führt einen Rucksack mit, dem er das Plakat mit der Parole entnimmt, und zieht sich jedesmal weiße Einweg-Handschuhe über, die aus irgendeiner Klinik oder Lebensmittelfabrik stammen könnten. Nun muß man wissen, dass es nicht grade Lauflage ist, die Brühler Straße in Raderberg, und in der Metzgerei, die hier dem LIDL Konkurrenz macht - außer dem Bäckereicafé sind das die einzigen Geschäfte weit und breit -  gibt es nicht mal Leber. Da kann man keine Massen zum Kochen bringen und kaum jemanden agitieren, höchstens vielleicht den Besoffsky mit Bart und Halbglatze, erstaunlich sauber gekleidet, den man schon früh um halb acht und dann immer wieder mit Bierpulle in der Hand schwergängig herumspazieren sieht, und der im LIDL gleich ein ganz bestimmtes Regal ansteuert. Tomate im HerbstlichtDer fährt auch - wie ich - schon mal mit als Buslinien-Hopper von Mansfeld nach Zollstock oder vom Gürtel nach Sülz; außer mir der dritte Sonderling hier in der Gegend (obwohl wir den Eindruck haben, die Sonderlingsdichte nimmt zum Severinstor eher zu). Manchmal bleiben Leute stehen und erkundigen sich, wogegen sich sein Demonstrieren richtet. AufReibekuchen mit Apfelmus dem Schild des Demonstranten steht übrigens der Satz: "Die totale Überwachung der Kommunikation einer Person durch Sekten verstößt gegen das deutsche Grundgesetz." Dem könnte man an sich rundheraus zustimmen, aber was bedeutet es? Könnte es mt der Kirche zu tun haben, vor der er steht, und deren Zwiebelturm von Alfred Böll, einem Onkel des Nobelpreisträgers im Stil der neuen Sachlichkeit errichtet wurde, oder mit dem Kindergarten daneben oder dem nahegelegenen Benediktinerkloster, dessen Nonnen Hühner und eine echte Kuh im Garten halten? (Die Nonnen kann man um 6 Uhr früh singen hören, die Laudes usw. sind für die Öffentlichkeit zugänglich, aber in der Woche sind wir um 6.00 beim Frühstück und an Feiertagen zu faul.) - Ich selber hab  zwar noch keinen Büffel im Hof, der mir das nötige Mozzarella zu Basilikum und noch immer üppig florierender Tomatenfauna liefern könnte. Aber weh mir, wo nehm ich, jetzt wo es Winter wird, die Farbe für die Tomaten her? Der Schatten der Erde fällt über sie und sie scheinen grün zu bleiben, selbst die ananas-Tomate auf der Terrasse, so dick und gesund sie aussieht, zeigt noch keine Spur von Erröten... Zuhause stellten wir dann fest, dass wir keine Diktatorenwitwen sind und durchaus ein paar recht ausgelatschte Exemplare in den Müll tun können, um Platz für das neue Schuhwerk zu schaffen. Die Leber kriegten wir dann noch in Zollstock - aber eigentlich war das ganze Projekt Leber nur ein Verzehrvorwand für das viele Apfelmus, das wir neulich selber gemacht haben zum Reibekuchen, und nun verbrauchen müssen (ich koch es gleich nochmal ein und stell die Gläser bei 100° ins Wasserbad im Ofen, dann hält sich das länger). Der Reibekuchentag war mein eigentliches Geburtstagsessen, denn da hab ich die Kamera zum ersten Mal ausprobiert. Sie hat übrigens eine Gesichtstausch-Automatik, man klickt einfach auf "Google-Bildersuche" und automatisch wird das Portrait eines Menschen eingesetzt, mit dem man sich schon immer mal bei einem Glas Wein und Reibekuchen unterhalten wollte. - Nachtrag; die XXL-Tomate habe ich inzwischen in die Duschkabine im Bad gesetzt, wo sie Anstalten macht, nach jahrelangem Behängen des in Hürth infolge Winterfrost und Zugluft eingegangenen "ficus Benjamini" der nächste Weihnachtsbaum zu werden.


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  • Zur Verüberflüssigung meiner diversen, einst im Schweiß des Angesichts erlernten Berufe ist ja schon manches erfunden worden, zB. die Rechtschreibreform mit weitgehender Laissez-faire-Lizenz, Such- und Übersetzungsmaschinen, der Anagramm-Generator und nun kommt noch eine weitere Webseite dazu, die automatisch Gedichte analysiert und auch noch per Gedichte-Generator schreiben kann. Generationen von Deutschstudenten werden des Problems überhoben, die von ihnen interpretierte Lyrik lesen zu müssen - okay, zur Kenntnis nehmen, das schon, aber Silben trennen und Versfüße analysieren, das erübrigt sich inzwischen. Dafür gibt es jetzt den sogenannten "metricalizer", der diese schweißtreibende Aufgabe übernimmt. Nun habe ich zufällig gerade ein paar Kinderverse unter der Feder, aus dem Englischen übersetzte Verse zu Märchen, die in Verbindung mit scheußlich-comichaften Bildern ein sog. App ergeben sollen, von Millionen angeklickt für einen Cent oder was. Das erste solchermaßen erstellte Gedicht, ich erhalte dafür, als einmalige Abfindung, einen höchst bescheidenen 3stelligen Betrag mit einer 1 davor (verlangt hatte ich eine 2 davor, aber bitte, da ist die Tür), gab ich in den o.g. Analysator ein und erhielt folgende

    Typologie

    Anzahl Strophen: 18
     
    alternierendes Metrum  
    Versfuß: jambisch
    Versmaß:  
    1. Versmaß:   - + - + - + - + - + - + - + [-]
     

    Ich darf jetzt nicht das Gedicht, was ich ja noch verkaufen will, hierhersetzen, aber wenn es eine verworfene Strophe ist, geht das bestimmt in Ordnung. Es ist nur ein Entwurf, der eigentliche Text lautet ganz anders und viel besser. Also: Abbildung ähnlich!

    Es war einmal ein Land, das hat bis heut kein Mensch entdeckt,
    Der Kaiser, der dort herrschte, war ein wahrer Mode-Geck.
    Musik und Spiel verschmähte er, und Bücher ließ er stehen,
    Um sich in neuen Kleidern vor dem Spiegel umzudrehen.

    Besonders fies finde ich von den Programmierern, dass sie ihrer Webseite auch noch einen Gedichte-Generator namens

    beigegeben haben, der auf Knopfdruck in gewünschem Reimschema irgendwelche Gedichte produziert, das Wortmaterial weißgottwoher nimmt (aus Goethes Werken etwa?) und z. B. auf Knopfdruck folgendes "Gedicht" abliefert:

    zerstreutes Gott bin mir hervor
    Doris in lauschen ist mich Flor
    die Spieltisch was mich ihr betriegt
    der Feind Wut Straßen fromme Dampf

    zugleich wer herbste grün Statur
    die glatte Reise Kreatur
    verwunderst ich Talent befiehlt
    das in Gedichtchen freundliche

    An dieser Stelle möchte ich mit ehernem Griffel festhalten, dass der dichtende Computer bereits 1994 bessere Ergebnisse geliefert hat, in einem von mir übersetzten Roman nämlich, dessen Autor so hieß wie dieser Film mit dieser bayrischen Ulknudel... Out of Dingeskirchen... Jedenfalls ging es in diesem (längst vergriffenen, bei ebay keine Kurzrezension) Roman um einen milliardenschweren Computerkonzern, der in seiner englischen Niederlassung arbeitslose Linguisten aus Oxford damit beschäftigt, den selbsttätig schreibenden Computer zu entwickeln. Shakespeare und seine Zeitgenossen als Datenbasis rein, daraus erschafft der Computer seinerseits neue Dramen oder schreibt unvollendete wie das apokryphe Pericles-Fragment zu Ende, mit Versen wie diesen:

    Von Liebe toll, packt selbst die mächt'gen Götter
    Gelüst auf Sternenfrucht von Bäumen des Olymp.
    Der ich nur meines eignen Lebens Karren lenk',
    verlöre ich ein Wagenrad durch Liebe:
    Ich würde tun, was Liebe über mich verhängt,
    von dem, was gerade, stark und wahr, in Staub gestürzt...

    Das Problem in dem Roman: Die Konzernchefs wollen kommerziell verwertbare Ergebnisse, z. B. in Form von Mahnbriefen oder Hausmitteilungen oder auch Liebes-, Brautwerbungs- oder Dankesbriefen für suboptimal-kreative Managertypen, während sich die programmierenden Schöngeister lieber damit beschäftigen, den Computer Shakespearesche Dramen oder Bürgerkriegsgedichte schreiben zu lassen. Darum rankt sich dann noch eine verzweifelte Liebesgeschichte, bei der der Chef der britischen Niederlassung, ein gewisser M***, sich in eine Kollegin verliebt, die aber an den Sohn der (asiatischen) Konzernchefin verheiratet werden soll, usw. Hinzu kommt der amerikatypische Ödipuskonflikt, der Vaters des M*** mit Namen F*** M*** ist nämlich ausgerechnet ein nobelpreisverdächtiger, hemingway-ähnlicher saufender und klatschspaltenfüllender Lyriker, dessen Gesamtwerk dem dichtenden Computer als Datenbasis zur Verfügung steht (der Sohn will ihn natürlich durch die Erfindung ärgern).
    Hier ein kleiner Auszug (Namen, außer dem des Roboters, von der Redaktion verschlüsselt):

    Des Sommers Frühlingsblätter sind gepflückt; Gedächtnis
    in Körben voll Erinnerung: ich ernte sie als Frucht.

    Das würde M*** vielleicht zur Aufnahme in die Lyrikwerkstatt von Iowa verhelfen, aber es war nicht ganz das, was er brauch­te. Ein zweiter Versuch ergab die Verszeile:

    Des Sommers Laub gepflückt, und ich bin müde.

    Nachdem der Text die durch neue stylometrische Kriterien ange­reicherten Semantik- und Pragmatikmodule durchlaufen hatte, wurde das "müde" getilgt, und auf dem Monitor erschien:

    Des Sommers Frucht hab ich geerntet, mir ist weh

    Akzeptieren oder zurückweisen? Akzeptieren. Als nächstes kam:

    erschöpft hab ich's gehoben einst wie Früchte

    Da am Ende der vorherigen Zeile der Punkt fehlte, bekamen Gram­matik und Parser zu tun, das Resultat lautete:

    ermattet, laß ich die
    Erinnerung an geschleppte Früchte hinter mir

    Im nächsten Schritt griff die Stylometrie sehr geschickt auf eine Synekdoche zurück und kam zu folgendem Ergebnis: und matt wie die Erinnerung an schwere Körbe, so daß die Anfangszeilen jetzt lauteten:
    Des Sommers Frucht hab ich geerntet, mir ist weh
    und matt wie die Erinnerung an schwere Körbe

    Akzeptieren oder zurückweisen? Nun, vorläufig war es ein plau­sibler Anfang, wenn auch mit Sicherheit sehr à la Robert Frost. Freilich bildeten die dritte und vierte Zeile keine überzeu­gende Fortsetzung:
    Mein Traum in dieser Nacht träumt allererst
    von Florida, traumloser Landschaft der Orangenernte
    ... 
    Hier waren wohl noch einige Durchgänge erforderlich; zuviele Träume verderben die Nachtruhe. Der Generator fuhr fort, spie noch eine Menge Nonsense aus ("sich fügend jener Macht des Nektars und der Mieten" war M***s Lieblingszeile), in dem nur selten der unerwartete Glanz lyrischer Meisterschaft durchschimmerte: "mein Apfel gärt und säuert in der Luft". Doch die Schlußverse klangen, als hätte das Programm seine Stimme wiedergefunden:
    Dann wach ich auf und reck mich in den Federn,
    und staune, daß die Arbeit nicht getan.
    Nicht schlecht; die Frost-Reminiszenz schlug ein wenig zu stark durch, als hätte sich der Generator von Nach der Apfelernte faszinieren lassen, ohne produktiv davon abzuheben. Dennoch beschränkte er sich nach wie vor darauf, den lyrischen Ton seines Vaters anzunehmen, statt andere Saiten zum Klingen zu bringen. M*** mußte ihn dazu bringen, tiefer in die literarischen Gewässer zu tauchen. Vielleicht lebten all diese Stimmen weiter, wie ein Chor über die Epochengrenzen hinweg, und der Dirigent rief versehentlich den Falschen auf - den Alt in der zweiten Kirchenbank statt des Tenors gleich neben dem Altar. Von dieser Vorstellung beunruhigt, nahm M*** den Hörer ab und rief bei S*** an.

    In ihrer Arbeitswabe meldete sich niemand. In letzter Zeit ging sie immer seltener dran. Sie war wohl viel in der Kathedrale unterwegs, kam ihrer Arbeit in der Natürliche-Sprache-Gruppe nach (wo sie mit P*** den Basiscode für Schreib es besser einrichtete), und durfte zugleich ihre neuen vorehelichen Aufgaben nicht versäumen. Ihr Verlobter hatte sie sogar zur Vorsitzenden eines Frauenbeirats gemacht, der sich über Gleichstellungsprobleme weiblicher Beschäftigter Gedanken machen sollte.

    Seit ihrer Unterredung in Westminster hatte er sie nicht mehr gesehen. Als P*** in Oxford auftauchte, einen Tag nach seinem Roboter-Debakel (mit blauen Flecken von Elsies Faustschlag und sich lauthals beklagend, daß auch im Zug kein Schnaps ausgeschenkt wurde), konnte M*** seine tiefe Enttäuschung nicht völlig verbergen, geschweige denn verstehen. Daß P*** im Handumdrehen mit D*** aneinandergeriet, war auch nicht dazu angetan, M***s Laune zu bessern. Warum war S*** nicht mitgekommen? An diesem Abend hatte er C*** vor dem Fernseher sitzen lassen und war zum Apparat in der Diele geschlichen, wo er sie im Hotel anrief. Vergeblich.

    Doch drei Tage später war ein großer Umschlag mit der Paketpost gekommen. Darin fand er einen Stapel fotokopierter Aufsätze und ein Thesenpapier, das S*** vor Jahren selbst erstellt hatte: Computerisierte Stilanalyse - Wahnsinn und Methode in der Literaturwissenschaft. Er hatte ihr ein Dankeschön auf den Anrufbeantworter sprechen wollen, aber zu seiner Überraschung war sie selbst am Apparat gewesen. "Was tust du denn um diese Zeit schon im Betrieb? Bei euch kann es doch erst halb acht sein!"

    "Mein neuer Tagesplan, R***. Anders komme ich zur Zeit einfach nicht mit der Arbeit durch. Du hast Glück, daß du mich noch antriffst!"

    "Als du nicht nach Oxford gekommen warst, dachte ich schon beinahe, du hättest es dir anders überlegt."

    "Sei nicht so blöd", gab sie schnippisch zurück. "Wenn ich verspreche, dir zu helfen, dann halte ich es auch."

    Das war jetzt vier Wochen her. Seitdem hatten sie ab und zu telefoniert, vielleicht ein dutzendmal, aber nur kurz. Ihr Tip mit der Stylometrie erwies sich als unschätzbar. Daß M*** ohne sie keinen Schritt weitergekommen wäre, machte sich jetzt bemerkbar. Erstmals hatte sich der Generator als fähig erwiesen, ausreichend gelungene Verse zu schreiben, um ihn für weitere Erfolge zuversichtlich zu stimmen. Und wenn er mal den Kopf hängen ließ, tröstete ihn die barmherzige S***.

    Allerdings nur, sofern er sie an die Strippe bekam. Für heute mußte er es aufgeben und sich selbst fragen, was er als nächstes unternehmen sollte. Schließlich fuhr er nach Hause, wo C*** in der Küche stand und Abendessen machte. Er nahm sich einen Drink und wechselte ein paar Worte mit ihr, wollte ihr erzählen, was er erlebt hatte. "Ich bin ganz dicht dran!"

    "An welcher Sache?"

    "Den Stil meines Vaters zu generieren. Es wird die Überraschung seines Lebens!"

    "Tatsächlich?" entgegnete sie ungerührt und schälte die Kartoffeln.

    "Ja, tatsächlich." Aufgeregt öffnete er seine Aktentasche und überflog seine Papiere. Dann faltete er den neuesten Plan des Generators auseinander und breitete ihn auf dem Küchentisch aus. "Hier ist der Durchschlag", verkündete er stolz. Er enthielt inzwischen S***s stylometrische Komponente:

       

    Lexikon

    (Standardsprache)

     

    Wissensbasis

    auch als Begriffsregister

    aufzurufen)

     

    Lexikon

    (Sprachfeld-spezifisch)

    mit Zusatzinformationen:

    Funktionswörter,

    Häufigkeit

    des Vorkommens etc.

     

    Stylometrie und Wortwahl

    in F. M***s lyrischem

    Werk mit abgeleitetem

    Phrasenlexikon und

    Thesaurus

     

    Zufallsgenerator

     Regeneriert durch Phrasen-Struktur-Regeln

    Parser nach der Marcus-D-Theorie, nur für die Syntax

    Regeneriert durch Fillmore-ähnliche Schulgrammatik

    Regeneriert durch Software-Module für Semantik/Pragmatik,

    abgeleitet von Wissensbasis und Stylometrie

    Verse zurückgewiesen                                                                                                      Verse akzeptiert

     Gedicht-Output

     "Was für ein Durcheinander von Pfeilen", staunte C*** und schüttele spöttisch den Kopf, als wollte sie sagen: Und für diesen Quatsch bezahlt man dich noch?

    Nach dem Abendessen schaltete C*** den Fernseher ein, während M*** im Arbeitszimmer über seinen Papieren saß. Bald schon rief sie ihn. Ob er nicht kommen und die Talkshow sehen wolle? Er ignorierte die Aufforderung und knobelte weiter an den Frost-Reminiszenzen in den Texten, die er heute generiert hatte. Irgendwelchen Einflüssen pflegte sein Vater in geradezu neurotischem Eifer abzuschwören. Wenn die Kritiker ihn einen zweiten Frost oder Auden nannten, gar einen schwachen Nachhall von Wallace Steven in seinem Werk ausmachten, gerieten sie beim Autor umgehend in Verschiß. Dabei merkte der alte M*** gar nicht, wie sehr das Beharren auf seiner Einzigartigkeit dem Vorbild Walt Whitmans verpflichtet war. Mit Zweiflern machte er kurzen Prozeß: In den 60er Jahren hatte ein Rezensent der Time seine Skepsis mit einem Nasenstüber bezahlen müssen, den er im New Yorker Restaurant Vier Jahreszeiten verpaßt bekam. In einem außergerichtlichen Vergleich einigte man sich auf ein Schmerzensgeld, das einem Jahresgehalt beim Time-Feuilleton entsprach.

    "Robert, das mußt du sehen. Es ist urkomisch, wirklich!"

    "Eine Minute noch", brummte er und dachte an seinen streitbaren Alten. Als Ehegatte und Erzieher war er zwar heftig, willensstark und anmaßend gewesen, aber kein Schläger. Wäre sein Vater zu Hause geblieben, dann hätte M*** als Jugendlicher viele Kämpfe durchstehen müssen, doch wäre ihm das gewiß besser bekommen als die Erfahrung des Verlusts.

    C*** erschien im Türrahmen und funkelte ihn böse an. "Ich dachte, du wolltest kommen?"

    Er seufzte. "Tut mir leid. Ich bin gerade mittendrin" - er deutete vage auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch. "Jetzt kann ich nicht aufhören. Aber es ist gleich soweit."

    Sie gab sich nicht zufrieden damit. "Das hast du vorhin schon gesagt. Komm, Liebling, mach Schluß. Ich bin in letzter Zeit so selten hier gewesen. Du willst doch wohl nicht die ganze Nacht durcharbeiten!"

    Er musterte sie zweifelnd. "Vielleicht doch? Manchmal muß ich das."

    Sie lachte freudlos. "Kein Mensch muß müssen. Immerhin bist du nicht im Büro geblieben. Und wer noch normal im Kopf ist, will sowas nicht. Es sei denn, man ist von seiner Arbeit besessen."

    "Genau", nickte er. "Ich bin besessen." Arbeit als Schmerzstiller. Ein Gegengift, dem er mehr Vertrauen schenkte als allem andern - Vater, Mutter, Liebhaberin, Freund. Es war eine verlockende Angelegenheit. Von Anfang an hatte er C*** begreiflich machen wollen, wie wichtig die Arbeit für ihn war. Den Grund dafür hatte sie darin vermutet, daß er sehr unglücklich sei. Vielleicht hatte sie recht. Doch mit ihrer bloßen Gegenwart lenkte sie ihn keineswegs von seinen Problemen ab. Jetzt starrte sie ihn verständnislos an. "Meine Arbeit ist mir sehr wichtig", fügte er kraftlos hinzu.

    "Was auch sonst", versetzte sie scharf und schlug die Tür zu.
    (...)
    Nach Langtry Bridge kam das Kreativ-Projekt erst richtig in Schwung. M*** ließ zwei weitere Balladen generieren, die der mittlere Phase F*** M***s entsprachen, und einige Gedichte, die an frühreife Liebeslyrik seines Vaters erinner­ten. Es gab sogar eine vervollständigte Version der ersten, Robert Frost nachempfundenen Verse. Unter dem Titel Ausklang der Saison lauteten sie:

    Des Sommers Frucht hab ich geerntet, mir ist weh
    und matt wie die Erinnerung an schwere Körbe.
    Mein Traum in dieser Nacht lebt allerwärts
    in Florida: Zeitlose Landschaft der Orangenernte
    und meines Winterurlaubs von den Wäldern.
    Gleichgültig fällt der Regen in die Träume
    und treibt mich in mein nördliches Quartier.
    Dort zeigt mir eine volle Sommersonne,
    wie unreif meine Früchte stets noch sind:
    Der Pfirsich läuft von Stößen bräunlich an,
    die harte Kirsche birgt den schwarzen Wurm.
    Mein schönster Apfelbaum blüht ohne mich,
    und breit' ich auch die Arme aus,
    dem Wachstum der Saison entgegen -
    mein Apfel gärt und säuert in der Luft.
    Ich seh sie jedes Jahr zur Reife schwellen,
    und träume stets, sie fallen vor der Zeit.
    Dann wach ich auf und reck' mich in den Federn,
    mich wundernd, daß die Arbeit nicht getan.

    ((Hier noch zum Abgewöhnen das oben erwähnte Gedicht Langtry Bridge, das den Durchbruch bei der Erfindung der Computergenerierten Lyrik brachte - alles seriös von Hand übersetzt!))

    Ich zähl' die Klinkersteine an der Langtry Bridge,
    wo General Wilson sich erhängte.
    Bei jedem Heimritt von den Feldern
    seh' ich im Dämmerrot des Sonnenballs
    das Pflaster glänzen unterm Pferdehuf,
    den ausgewaschenen Pfeiler, wo vordem
    der General seine Erfüllung fand.
    Die Eiche, die hinüberragte, ist gefällt,
    verfault der Ast, von dem sie ihn geschnitten.
    Man sagt, daß zwanzig Hände ihn nicht hielten:
    Er glitt hinunter in den Schlamm, und schmatzend
    zum Fraße nahm ihn dort der träge Fluß.
    Des Morgens meide ich die Brücke, geh den Wald
    entlang mit seinen hellen, hohen Tannen
    und wende aufwärts zu den Wiesen mich,
    wo bleiches Gras den krummen Pfad verbirgt
    und unsre Felder vor der Wildnis weichen.
    Die Sichel singt im Gras, wir machen Heu,
    ich und die alten Männer, deren einer
    so alt ist, daß er noch den General gekannt hat.
    Des Mittags sitzen wir zur Rast und reden;
    Geschichten kreisen rings von Mund zu Mund
    wie eine falsch gestellte Uhr, die ihre Zeit
    vertrödelt, später aufschreckt und dem greisen
    Jahrhundert noch die Gnadenfrist gewährt.
    Doch wenn der Tag sich neigt, bin ich allein,
    nur die Gespräche klingen in mir nach,
    wenn zögernd ich mich heimwärts wende.
    Als fürchte ich, den General zu finden,
    so langsam reit' ich auf die Brücke hin
    und halte meinen schweren Atem an.
    Er trägt vielleicht die alte Uniform,
    die, staubbedeckt und grau vom Pulver,
    doch unbefleckt von Blut, nie mehr gewaschen wurde,
    seit er davonlief in der Schlacht von Antietam.
    Warum, o General, warum?
    Daß du entkommen, war es nicht dein Glück?
    Selbst Schande macht unsterblich in Geschichten.
    Willst du denn, General, mich auch versuchen,
    lockst du mich auf die schmale Brüstung dort,
    daß ich hinunterstürze wie ein Stein, wohl wissend,
    daß ich gleich dir den Weg ins Leben gehe?
    Die Toten, von den Lebenden begraben,
    in den Geschichten bleiben sie lebendig.
    Ich seh den General am Wegrand winken

    und geb', gesenkten Haupts, dem Pferd die Sporen,
    ich schließ' die Augen oder zähle Steine
    und schöpfe Atem, wenn ich drüben bin.


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  • ...Dann geht er von neuem auf und ab, bleibt plötzlich stehen, faltet die Hände vor der Brust, wirft den Kopf zurück und beginnt, aus voller Brust zu singen.

    WLADIMIR: Ein Hund kam in...
    Da er zu tief einsetzt, hört er auf, hustet und fängt von neuem etwas höher an zu singen.
    Ein Hund kam in die Küche
    und stahl dem Koch ein Ei.
    Da nahm der Koch den Löffel
    und schlug den Hund zu Brei.
    Da kamen die anderen Hunde
    und gruben ihm ein Grab...
    Er hört auf, denkt nach und beginnt von neuem.
    Da kanmen die anderen Hunde
    und gruben ihm ein Grab.
    Und setzten ihm ein'n Grabstein
    worauf geschrieben stand:
    Ein Hund kam in die Küche
    und stahl dem Koch ein Ei.
    Da nahm der Koch den Löffel
    und schlug den Hund zu Brei.
    Da kamen die anderen Hunde
    und gruben ihm ein Grab...
    Er hört auf, denkt nach und beginnt wieder.
    Da kamen die anderen Hunde
    und gruben ihm ein Grab...
    Er hört auf, denkt nach und singt dann, etwas leiser, weiter.
    Und gruben ihm ein Grab...
    Er schweigt, bleibt einen Augenblick stehen, ohne sich zu bewegen, geht dann wieder in fieberhafter Eile auf der Bühne hin und her und auf und ab.

    Leider habe ich keine Zeit, täglich hier anzudocken. Jeden Tag ein neues Wort einstellen, das wär was! Kürzlich lernte ich das Wort barfen v. t. kennen. Heißt soviel wie "Hunde biologisch füttern" und wird abgeleitet von BARF, einer Abkürzung für "Biologisch artgerechte Roh-Fütterung", der Köter kriegt frische Leber, Niere und/oder Schlachthofabfälle durch den Wolf gedreht, dazu gemahlene Knochen und gekochte Möhren und dafür kein Diabetes mehr, wie (angeblich) der Prachtkerl dank Schappi. Heute schon bedarft, äh, gebarft? Im Internet gibt es entsprechende Foren, wo man diskutiert, ob Barfen auch auf dem Jakobspilgerweg oder beim Campingurlaub geht, und dass es heute auch nicht mehr so ein Abenteuer ist wie vor 12 Jahren, an Schlachthofabfälle zu kommen.

    Neulich im Theater, wir beeilten uns, weiter zu warten - und nun raten Sie mal, wer nicht kam? Genau. Erst kamen wir zu spät los, weil die Küche noch aufgeräumt werden müsse ("wegen der Aura"), dann rasten wir zur Bahn, statt auf den Bus 133 zu warten, der auch pünktlich ohne uns losfuhr, der andere, 131er, tat desgleichen und von der Linie 12 weit und breit nichts zu sehen: Tödlicher Unfall auf dem Höninger Weg, Ecke Gottesweg, da war ein 50jähriger Radfahrer in der Schienenrille festgeklemmt und gegen die anfahrende Bahn geprallt. Gut, dass mir das nicht passiert ist! Wir nahmen notgedrungen das Auto zum Schauspielhaus, fanden sogar eine kaputte Parkuhr und abends kamen wir mit dem Wagen nur über Umwege, nicht über den Hönigerweg zurück, denn die Spusi war noch um 22.30 am Werk, die Unfallstelle zu sichern bzw. den -hergang zu klären.

    Schließlich machten wir kehrt, um Didi und Gogo nicht allzu lange warten zu lassen. Die Kölner Inszenierung hat gewaltige Emotionen ausgelöst. "Godot kommt nicht, auch nicht in Köln", stellte der Deutschlandfunk fest; "ergreifend bedrückend", schrieb eine Zuschauerin in den Blog der Bühnen der Stadt Köln. Das Bühnenbild sei eine "Metapher der Aufführung, die sich die Grube zum Stolpern selbst gräbt", frohlockte der Kritiker Andreas Wilink. Und doch: Mich mutet das Bühnengeschehen etwas seltsam an.
    Erstens: Dass ein großes Haus das macht, mit Kronleuchter und allem Klingklanggloria; früher war das ein Kammerspielstück für Studentenbühnen (ich hab es zuerst in einem alten Frachtkahn auf der Rhône gesehen, beim Theaterfestival in Avignon, dargestellt vom Ensemble "la péniche"). Zweitens, mir war einfach zu viel los auf der Bühne, da wurde ständig gemacht und getan, gerannt und gestikuliert und gefuchtelt, um die Langeweile totzuschlagen, die eigentlich das Hauptmerkmal einer zeitgenössischen Inszenierung des Antistücks sein könnte. Und warum nicht auch mal Langeweile, z. B. gegen die ständige Reizüberflutung "der" Medien an-inszenieren. Drittens, und das ist mein gewichtigster Einwand gegen die (sonst gelungene, verdienstvolle, darstellerisch brillante usw.) Aufführung: All die dick unterstrichenen Anspielungen zu KZ und Holocaust waren derart aufdringlich-einseitig, dass es schon wieder störte und wie ein allzu schlichter Schlüssel für's Ganze daherkam. Ich weiß oder habe gelesen, dass Beckett sich durch zwei Juden, die in der Vaucluse auf Papiere zur Weiterreise warteten, zu Wladimir und Estragon anregen ließ. Und es gibt Hinweise genug im Stück selbst: Gogo, der seine Hochzeitsreise nach Palästina machen wollte, "wir haben unsere Rechte verschleudert" und so weiter. Und Köln? Da wird aus dem Fingerzeig ein Ellbogenstemmen und das Ganze noch dicker aufgetragen, schließlich sind wir im Schauspielhaus. Da wühlen sie permanent in Bergen von Altklamotten, wie sie bei der Befreiung der KZs vorgefunden wurden, tragen selbst rutschige OP-Hemdchen, das Herr&Knecht-Nebenpaar Lucky & Pozzo glitter-farbene Zebrakostüme, pardon, Sträflingskleidung, SS-Peitsche darf auch nicht fehlen, fernes Grollen deutet die Artillerie der nahenden Ostfront an, und natürlich dürfen auch jede Menge gestischer Anspielungen nicht fehlen: Zu Beginn des zweiten Akts hebt Wladimir zu singen an, "da kamen alle Hunde und gruben ihm ein Grab", um sich gleich drei- bis viermal mit "piffpaff" in die ausgehobene Sterbegrube (wo er weich landet, unten liegen ja die Altklamotten, die immer wieder per Hydraulik nachgeliefert und hochgehievt werden) fallen zu lassen.
    Gleichzeitig übernahm man aber auch die Mahnung vom Altmeisters Beckett, wonach das Stück komisch zu verstehen sei. Ganz so zirzensisch, wie er es in seiner eigenen Inszenierung im Winter 1974/75 am Schillertheater in Berlin. Er habe das Theater "und besonders Godot leid und satt" schrieb er einem befreundeten Filmregisseur: „Tag um Tag diese Worte hören zu müssen ist zur Tortur geworden." 
    Da Beckett selbst Deutsch beherrschte, griff er damals an vielen Stellen in die Übersetzung von Elmar Tophoven ein, z. B. die Beschimpfungen der beiden Hauptprotagonisten: "Schurke! - Würstchen! - Saftsack! - Giftzwerg! - Rotzlöffel - Rindsknochen!" in "Streithammel! - Querulant! - Stinkstiefel! - Giftnickel! - Brechmittel! - Pestbeule!". Vielleicht hatte Beckett aufgdie Schnelle noch Recherchen in Kreuzberger Hinter- oder S-Bahnhöfen angestellt? Bei Wladimir gipfelte der Beschimpfungsduett in "Mistbiene!" (Tophoven). Beckett änderte in "Scheißkerl" und strich das wieder, um "Parasit" drüberzuschreiben. Diese ironisch-kabarettistische Manier wird auch in Köln genugsam herausgestrichen und begleitet die Holocaust-Grundstimmung: Suchscheinwerfer des Amüsementbetriebs im finsteren Sumpf der Geschichtsmelancholie. Irgendwie peinlich, unpassend, und damit meine ich nicht etwa political incorrect, ganz im Gegenteil, für die gegenwärtige Lage in Nachkriegseuropa total correct, immer mal etwas Holocaustmahnmal und dann wieder ein paar Takte comedy (statt irgendwelcher Musikeinlagen): Hach, wie sind wir doch locker & flexibel, wenn's um Moralismus und Bewältigungsvergangenheit geht. Die Auschwitzkeule als Jonglier-Diabolo.
    Okay, als ich das Stück zum ersten Mal las, reizte es mich zum Lachen. Meine Mitschüler, denen ich es auslieh, auch. Um den Witz zu verstehen, haben wir sogar die dreisprachige Version verglichen und nach weiteren Pointen abgeklopft. Wir haben uns beömmelt, wie man damals sagte, und konnten uns zu 100 % mit dem Stück ("...sie gebären rittlings über den Gräbern...") und der Deutung durch Theodor W. Adorno identifizieren. Das war wenig Jahre vor der Beckett-Inszenierung in Berlin. Wir lasen das Stück in der Schule, unter der Bank! wie man betonen muss, wie Comics oder Lassiter-Heftchen. Mein altsprachlich-humanistisches Gymnasium war so konservativ, dass man um Dramen, in denen Wörter wie "Mistbiene" oder "Saftsack" vorkommen, eher einen Bogen machte, von Schillers Räubern einmal abgesehen, der war ja Klassiker, da mochte das noch angehen. Ja, dieses Stück ohne Handlung, der brutalstmögliche Stillstand entsprach ganz unserer Weltwahrnehmung in der Vor-Punk-Ära. Das hatte natürlich auch was mit pubertärem Unerfülltsein zu tun. Uns gefielen ja auch Led Zeppelin und Yoko Ono. Wäre es durchgenommen worden, hätten wir uns lustlos damit herumgeödet. Wir eigneten uns den Stoff, der nie drangekommen wäre, in der Untersekunda an (später kam wohl Arno Schmidt und dergleichen auf), und meinen Lektüre-Empfehlungen folgte die Clique, deren intellektueller Stichwortgeber ich, der unsportliche, führerscheinlose und technologisch völlig unbedarfte Außenseiter, weiß der Teufel wie, damals geworden war.

    Das Buch liegt vor mir, ziemlich abgeliebt, aus der Reihe Suhrkamp Taschenbuch (von der ich damals mehreren Nummern gratis abgreifen konnte, das hing mit einem Rezensenten-Bücherschrank zusammen, in dem nur noch die Taschenbücher waren, Erstausgaben hatten schon andere abgegriffen), Bd. 1. Besonders amüsierte uns beispielsweie diese Passage, wir haben dies und anderes mehrmals in Gespräche eingeflochten:

    ESTRAGON mit todschwacher Stimme: Meine linke Lunge ist sehr schwach. Er hüstelt. Mit Donnerstimme. Aber meine rechte Lunge ist kerngesund!

    oder die hier:

    POZZO: Was habe ich bloß mit meiner Bruyère gemacht?
    ESTRAGON: Ist ja toll! Er hat seinen Rotzkocher verloren! Er lacht schallend.
    WLADIMIR: Ich komme gleich wieder! Er geht auf die Kulisse zu.
    ESTRAGON: Am Ende des Ganges links.
    WLADIMIR: Halt mir den Platz frei. Ab.

    Darauf hieß die Pfeife, die ich damals zu rauchen pflegte, auf ewig so, aber auch der übrige Dialog wurde stehende Redewendung. - Der Übersetzer des Stücks und anderer Werke Becketts, Elmar Tophoven (1923-1989), stammte übrigens aus Straelen am Niederrhein, wo er eine ererbte Hofanlage besaß, die er mit Büchern und Nachschlagewerken und Kollegen füllte und die dann mit Landesmitteln per Stiftung zum Europäischen Übersetzer-Kolleg ausgebaut wurde. Ich war verschiedentlich dort zu Gast (auf den rotwein- und schokoladeintensiven Seminaren des VdÜ) und habe mich sehr wohl gefühlt. Das Tolle, dort kann man - als Übersetzer - auf Anmeldung zeitweise wohnen (gegen geringfügiges Entgelt für den Verbrauch von Strom, Wasser und Kaffee) und vor allem arbeiten, wenn zuhause Kindergeschrei oder der genervte Hausmann (literarisches Übersetzen ist ein Frauenberuf) stören oder eine Baugrube vor dem Fenster zum Arbeitszimmer lärmt. Die Übersetzer leben in den Zimmern der Bibliothek, ich war z.B. in der russischen Abteilung untergebracht. Natürlich klopfen bisweilen Kollegen, die den einen oder anderen Band benötigen. Inzwischen ist aber auch dort der Computer eingezogen; die allgemein zugänglichen internetfähigen Laptops summen und glühen in der Nacht in dem schönen Innenhof, wo man notfalls die ganze Nacht surfen kann. In einer vergleichsweise kleinen Küche kommt man zu den Mahlzeiten, die hier meist individuell genommen werden, mit Kollegen zusammen, vielen Ausländern, die hier stipendienhalber wohnen, um den einen oder anderen deutschen Autor in die jeweilige Landessprache zu übertragen.

    Vom Barfen der Hunde zur ökologisch korrekten Humanoid-Ernährung: Vorgestern verlas eine Sprecherin im Rundfunk die Schlagzeile "Ehekrise führt zu Kompetenzstreitigkeiten bei der Lebensmittel-Kontrolle." Originalzitat! Wörtlich wiedergegeben!


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