• klotzbuecherbrauerei"Ein klotziger Brocken bleibt das Buch dennoch, vielleicht auch ein Kotzbrocken" - mit diesen ermunternden Worten im Schlussabsatz einer Rezension in der Zeit vom 11. Dezember 2010 resümiert Friedhelm Rathjen Zettel's Traum. Diesen klugen, abwägenden Artikel möchte ich allen empfehlen, die sich im Kielwasser des hundertjährigen Geburtstags mit Schmidt beschäftigen. Eine freundliche und didaktisch strukturierte Einführung in den Gesamtkomplex und in einzelne Werke bietet auch Peer Schaefer auf seiner Webseite incl. Kommentarstellen zu Leviathan oder Die beste der Welten. Einen biographischen Abriss bietet Marius Fränzel auf seiner Musagetes-Webseite, dessen Lesehinweise-Blog zu Zettel's Traum über S. 1 noch nicht hinaus ist. Rathjen, Autor einer Chronik zu Leben und Werk (Bargfelder Bote, 3fach-Nummer), weiß zwischen Kritik und Bewunderung die Waage zu halten. Er resümiert, was Schmidt beschäftigte, als er das Werk niederschrieb, und hält es für den Abschluss seiner Ausflüge ins freudianische Analysierwesen. Der Dän in Zettel's Traum, den man unschwer mit Schmidt identifiziert (obwohl das wahrlich nicht immer naheliegt, William T. Kolderup aus der Schule der Atheisten ist beispielsweise Friedensrichter, aus begüterter Dänischer Familie und früher mal zur See gefahren) ist der letzte Ich-Erzähler, allerdings selbst auch nur ein Charakter aus den dramatis personae. Denn die entscheidende Klippe des Leser-Narrenschiffs ist: Früh-, Mittel- oder Spätwerk? wer das erste liebt, schätzt (oft) das letztere nicht - gut, es ist auch eine Geldfrage, und natürlich muss man für die ab Zettel's Traum geläufigen Riesentyposkripte Platz im Bücherschrank freiräumen. Und wer im Spätwerk zu Hause ist und sich auf die versponnene, grandios-einseitige "Etymtheorie" beruft, dem werden vielleicht die doch recht biederen, geradezu innere-Emigration-haften Juvenilia peinlich sein. Apropos: was könnte uns eigentlich sonst von der Lektüre Arno Schmidts abhalten? Hier zehn potentielle Bremsklötze zum Wegräumen:
    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...# 1 Satzzeichen: Ganz so schlimm ist es doch gar nicht, wenn man sich den Code mit z. B. <eckigen Klammern> und Doppel=Trenn=Strichen draufschafft. Wildwuchs an Ausrufe- und Fragezeichen, Beistrichen, Doppelpunkten ist gar nicht so schlimm, wenn man Comics lesen kann. Da ersetzt ja auch ein Ausrufe- oder Fragezeichen über dem Kopf die Denkblase, die den Erkenntnisweg erst nachzeichnet. Im Comic sind mit z. T. kombinierten Frage- und Ausrufezeichen - manchmal verdoppelt und verdreifacht - Gefühle wie Verwunderung, Verblüffung, Staunen suggeriert bzw. wiedergegeben. Die Reaktion des Lesers auf die Deixis eines isoliertes Zeichens wird bei AS vorab einkalkuliert. Auch als erzählerisches Element werden Satzzeichen benutzt, beispielsweise vorangestellte Kunstpausen-Doppelpunkte : ? Da werden Reden (oder Gesten, oder gar Mimik wie bei den heute allerorts benutzten Chatzeichen) abgekürzt. Einmal, ich weiß nicht mehr in welchem Roman, geht der Held aufs Klo und das Ausrufezeichengetümmel in der Parenthesengirlande lässt nicht grade auf flutschige Entleerung schließen. Eine ähnliche Überschrift „,;.–:!–:!!“  zierte ja auch die Spiegel-Titelstory von 1959 über den Schriftsteller (deren Druck auch das Ammenmärchen von der Unbekanntheit des Arno in der BRD-Literatur entkräftet) - die Zeile war ein Zitat; an der Stelle, von der es stammt, wurde der fragende Ich-Erzähler auf eine Lokalität hingewiesen, Komma und Semikolon deuten ein Zögern, vielleicht ein "äh" an, der erste Gedankenstrich vielleicht die Aussage oder den ausgestreckten Zeigefinger, dann folgt der Doppelpunkt  als eine Art deiktische Einleitung zu !, der schlechthinnig-emphatischen Exklamation, die man gar nicht mit einem Laut (z.B. "da") substituieren muss, um sie zu verstehen - und, weil die Erklärung noch präzisiert wird, folgt nochmal - Zeigefinger - Deixis - und jetzt zwei Ausrufezeichen, jetzt kapiert? unmissverständlich, da geht's lang, worauf im Text ein Ah, Danke schön... erwidert wird.
    # 2 Präpotentes Geniegehabe: Arno kennt, klar, niemanden, der so oft recht hätte wie Arno, und da das unbezweifelbar feststeht (ganz harter OKW-Stil: Wer etwas anderes behauptet, lügt!), lässt er's auch jeden wissen, der es nicht hören will. Andererseits begab er sich freiwillig selbst auf das schlüpfrige Feld der Freud-(wenn auch nur Text-)Analysen. Die Helden von Schwarze Spiegel, Brand's Haide und Faun wollen sogar retrospektiv alles besser gewusst haben, was Ihnen aber wenig half... Doch lässt sich AS nicht 1:1 kongruent mit den Ich-Erzählern austauschen (es sind eher Wunschprojektionen, die anteilmäßig auch bei Nebendarstellern zu finden sind), man darf ihn schon gar nicht mit dem Kultus ("Muhammad Arno Ali"', wie Andersch dichtete) der Fangemeinde verwechseln. Warum soll man sich provozieren lassen? Nicht er hat recht, ich habe recht, u.a. an Sonn- und Werktagen.

    Joseph M. von Babo: Arno. Ein militärisches Drama in zween Aufzügen (1776), aufgeführt in Mannheim, München und Wien: Als der Vorhang aufgeht, schaut der Held auf sein "Degengehänge"... was hätte die Etymtheorie daraus gemacht? "Babo" ist übrigens Jugendwort des Jahres 2013, heißt soviel wie Chef!
    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...
     # 3 Patriarchalischer Besserwisser: Ich war lange mit mir einig, dass Schmidt, wie ich ihn zu kennen glaubte, eine Art Vaterersatz ist (keiner, nach dem sich Waisenknaben wie ich geradezu sehnen).  Diese seltsam persönliche Verstrickung vieler Schmidt-Fans mit dem Objekt ihrer Bewunderung wäre wiederum eine eigene Psychoanalyse wert. Jedenfalls verkörperte er viele Eigenschaften, die im väterlichen Image der 1950er angelegt waren: Kriegserfahren, physisch stark, praktisch begabt, kennt die Natur wie ein Waldläufer, politisch ein Durchblicker, allerdings keine Ahnung von den "Beatles" oder den Segnungen der sog. Hippie-Gegenkultur, der er (stets einen Lesetipp bei der Hand) Döblin empfahl statt Hesse, intelligent und gebildet, SPD, aber linkslastig, immer auf der Seite der Schwächeren, natürlich gab es weit und breit keinen solchen Vater! Der Hader über die Enttäuschungen, die Schmidt später mit eher rabiat konservativen Thesen bereitete, dazu das immer weniger publikumsfreundliche Spätwerk, war der Rücksturz zur Erde nach dem Höhenflug kultisch übertriebener Selbstadoption. Wie man seinen Vater ödipal abmurkst, polemisierten von da an viele gegen den ollen Haide-Klotzkopf.
    # 4 Fehlurteile: Balzac, Balzac: kein Dichter; kein Verhältnis zur Natur (das wichtigste Kriterium!). Nur alle 20 Seiten einmal etwas wirklich Gutes, eine präzise Formulierung, ein suggestives Bild, eine Initialzündung der Fantasie. Wie lächerlich z. B. seine ewigen, 2 unbeholfene Druckseiten langen, Beschreibungen von den Boudoirs der Haute Volée! : vermag einer die Scherben solch unsinnigen Puzzle-Spiels zusammenzusetzen? Und so oft Gestalten, Motive, Situationen wiederholt, wie nur je ein Vielschreiber. Männer gelingen ihm nie; nur Incroyables, Geizhälse, Journalisten, giftmischende Portiers [...]. Seine Frauen: Kurtisanen oder Mauerblümchen. Psychologie?? : o mei!! : den einzigen 'Anton Reiser' geb ich nicht für Balzac und Zola zusammen! Wohlgemerkt, der so urteilt, heißt Heinrich Düring (der Faun in Aus dem Leben eines Fauns), der ihn so urteilen heißt, heißt Schmidt, allerdings. In einem ständig zwischen Essay, Erzählung und Lyrismen changierenden Werk stehen natürlich auch mal Klöpse dieser Art. Lustigerweise könnte das Fazit auf den Autor zurückweisen: seine Frauen? Kurtisanen oder Mauerblümchen; überzeugend gestaltete er Incroyables & Geizhälse; Psychologie: o mei!

    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...

    # 5 Wiederholungen: Dabei will ich ja gar nicht Balzac verteidigen müssen, wo ich selbst spät erst entdeckte, wie die Scherben solch unsinnigen Puzzle-Spiels, um es zu genießen, zusammengesetzt sein müssen. Sagen wir's ganz platt, Balzac führt aus meinetwegen sonderbaren Einzelschicksalen nach und nach das komplexe Soziotop des Seconde Empire herauf, ein untereinander vielfältig vernetzter Personenreigen. Ein einzelner Roman mag (je nach Übersetzung) nicht reichen, man muss da durch, das Ganze vornehmen, wo der Mikrokosmos jedes AS-Romans den ganzen Schmidt, im Grunde auch den späten Schmidt schon enthält. Es ist mit selbstähnlichem Personal die immergleiche story, die fort und fort gesponnen wird. Ein meinungsstarkes Wunderkind, ständig an der Doofheit der Mitmenschen verzweifelnd, wird erst innerer Widerständler, der doch angepasst-trotzig seinen Job macht, an Feierabenden Wieland liest, Fouqués Biographie oder das Königreich Hannover erforscht; als geschundener Kriegsteilnehmer und Ostflüchtling, der alles verloren hat, in bitterster Armut eine freiberufliche Einöd-Existenz errichtet, die Bretter zu seiner Hütte mit einem proletarischen Freund zersägt, das dumpfe Bauernvolk hasst, ab und zu Besuch bekommt von biederen Ehepaaren mit Teenie-Töchtern (halbwüchsigen Kurtisanen oder Mauerblümchen); und dann wird auf langen Spaziergängen durch die Haide über unbekannte Autoren und die Etyms bei Poe & Co. geredet, geredet, geredet...
    # 6 Etymtheorie: Irgendwann über der Lektüre von Karl May muss Arno die "präembryonale Tantenliebe" (R. Neumann) aufgegangen sein. Und dass seit Freud ("das feste Ja muss als ein dringendes Nein gedeutet werden") von allem das Gegenteil stimmt. Jedes Wort birgt einen Sex-Kalauer (Etym). Nicht, dass sich der Autor je einer Psychoanalyse unterzogen hätte, wie's jeder redliche Seelenklempner tun muss, nein, er dilettierte munter drauflos und entdeckte so in Sitara und der Weg dorthin, was es mit Winnetous "küßlichem Haar" und mit waldigen Doppelhügelkuppen auf sich hat, zwischen denen tief im Tal Wasserlöcher sind. Und: Von Sam Hawkins bis Halef Omar Peniden, alles Peniden! Eine ubw-Methode, die nur Carroll, Joyce - und Arno Schmidt bewußt anwandten.

    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...

    # 7 Sexismus: Na schön, man hätte gern statt einer Zeitmaschine ein Zeit-Megaphon, mit dem der junge Schmidt dem alten Schmidt zurufen könnte, dass es auch noch andere Assoziationen gibt als solche, die mit Arsch, Poe & Titt'n zu tun haben. Aber mal ehrlich, es schärft die Beobachtungsgabe ungemein, obwohl man den Zweck der Übung nicht recht erkennt. Was interessiert es den Leser, ob May schwul und Poe koprophil gewesen sei. Hat nicht Schmidt für sich verlangt, man soll mit dem Werk vorlieb nehmen und den schäbigen Rest des zermürbten Stachanowpoeten gar nicht ignorieren? bzw. in Ruhe lassen? Gut, in den 50er Jahren galt ein strenges Jugendschutzgesetz, heute wird Dirk Kurbjeweits Novelle Zweier ohne als schulische Prüfungslektüre von kleri- bzw. evangelikalen Schwaben bekämpft. Damals war das mit Katz und Maus nicht anders, und es war sicher ein Heidenspaß, wenn Robert Neumann denselben prüden Sittenwächtern, die Seelandschaft mit Pocahontas verbieten wollten, Karl May als jugendgefährdend anzuzeigen versuchte. Dass Schmidt knapp an einer Gotteslästerungs- und Pornographieverurteilung vorbeigeschrammt ist, macht den Tick erklärlich. Ansonsten hat er recht anmutige Geschlechtsverkehre geschildert, wobei Frauen stets auf Augenhöhe beteiligt sind, außer beim schmatzenden Französisch mit einer, äh, Zentaurin in der Gelehrtenrepublik...
    # 8 Atheismus: Das wuchtige Pamphlet Atheist? Allerdings! wurde vor Jahren bei Haffmanns als Flugblatt gedruckt, und zwar weiß auf schwarz in rotem Rand und mit hässlichster Fraktur. Wollte man andeuten, wes Geistes Kind dieser rabiate, sich andauernd erklären müssende Gottesleugner ist? Dem manifest theoretisierenden Atheismus wohnt der Widerspruch inne, dass er mit Schaum vor dem Mund gegen etwas predigt, was ohnehin nicht existiert. Atheisten erlebe ich als fromm und gläubig, während mich Zynismus der Pfaffen aller Religionen mehr ankotzt als 'Gott' & Schöpfung.
    # 9 Politik: Was mich zu dem Schluss bringt, weshalb ich diesen Blogtext angefangen habe. Schmidt als Bildungsstreber, 100-Prozentler, Antimodernist, Gewerkschaftsfeind, Misanthrop, unerträglicher Geili und Wortwitzler, hindert mich all das, seine Bücher gut zu finden? Nein. Man will gar nicht ständig einer Meinung sein, schon gar nicht mit dem, was man liest, das wäre fad!
    # 10 Humorlos: Als Arno Schmidt starb, notierte Elias Canetti: "aus Trotz", und Hans Magnus Enzensberger dichtete den Schüttelreim:
    Der Welt hat er auf Schritt und Tritt geschmollt
    und mürrisch hat sich Arno Schmidt getrollt.
    Es gibt ja sogar ein Suhrkamp-Insel-Buch Arno Schmidt für Boshafte, wie ich kürzlich festgestellt habe, wobei man fragen darf, brauchen wir das und wozu eigentlich die den? Das ist wohl der Grund, weshalb die Arno-Schmidt-Stiftung in den letzten Jahren immer öfter auf den komischen, humorigen, spaßigen Schmidt pocht. Selbst Reemtsma behauptete in einer arte-Sendung, welch ein "sehr freundlicher, zugewandter und höflicher Mensch" Schmidt gewesen sei, wo er selber noch 1986 bekannte, er sei nicht der Typ gewesen, mit man gern in Urlaub führe, und es gebe "einfachere Lebenswege in der Welt als den, die Frau Arno Schmidts zu sein" (Wu Hi? Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, S. 237). Danke nein, ich brauch keinen Spaßgenerator im Bücherschrank, ich lache lieber über die Stiftung, denn Reemtsma ist von allen Schmidt-Mäzenen der am ärgsten Gelackmeierte. Das Geld (350.000 DM) gab er als Vorschuss hin für den Roman Lilienthal, von dem Schmidt ihm einredete, der solle sein Hauptwerk werden! (also doller noch als Zettel's Traum), daraus wurde nichts, am Ende blieb nach seinem Tod nur Julia, oder über die Gemälde - nett, aber nur ein Fragment. Auch den zusammengekehrten, jahrzehntealten Lilienthal-Schurrmurr mussten die Stiftungsknechte zu einem Buch zusammenleimen, und wer darin blättert, weiß Bescheid. Schmidt wird sich ins Fäustchen gelacht haben über den money man und hätte ihn früher oder später abserviert wie seine Förderer Michels, Schlotter & Co. Andererseits, wo sollte die Witwe hin mit dem Haus und den Büchern, direkte Erben gab's keine und wer wissen will, wie Arno Schmidts Neffe in USA aussieht und was er so treibt im Leben, hier klicken (Ken heißt er)! Das hat Jan Philipp Reemtsma jetzt davon, ätsch, jetzt ist er Arno Schmidts Frau, es gibt einfachere Lebenswege in der Welt! Seine Stiftung hockt seit Jahren auf all den Rechten, ob man bis 2049, wenn AS gemeinfrei wird, die 350.000 wieder einspielt? Ich fürchte, das war kein lukrativer Deal. Denn der Bildungshintergrund, den man doch mitbringen müsste zur Lektüre, wird immer fadenscheiniger; Suhrkamp ist insolvent, von S. Fischer, der einen interessanteren Klassiker-Kontext hatte, trennte man sich im Streit (in der sog. Suhrkamp-Kultur geht Schmidt neben Hesse, Brecht, Weiss & Co. unter, in Gesellschaft von Freud, Kafka, Döblin, Thomas Mann, selbst Christof Ransmayer und Florian Illies sähe er auf jeden Fall besser aus). Autorenkorrespondenz mit Andersch u.a. liegt längst vor, Familienbriefe, seit Jahren angekündigt, scheinen undruckbar zu sein, vermutlich zu banal; allenfalls von dem Wollschläger-Briefwechsel sind noch neue Aufschlüsse zu erwarten. Wollschläger war auch so ein armes Schwein, nach jahrzehntelanger Verehrung hat er als "Statthalter der deutschen Sprache seit dem Tod Arno Schmidts" (wörtlich so!) kein nennenswertes eigenes Werk hervorgebracht. Die Tagebücher der Witwe sind amüsant, ergeben aber keinen Cosima-Effekt, man liest sie nicht um ihrer selbst willen. Ein Steppenwolf oder ein Siddharta wie bei Hermann Hesse, der sich seit 100 Jahren immer neu als Kultautor vermarkten lässt (ob das je bei AS so wird?), springen aus diesem Nachlass beim besten Willen nicht mehr raus. Und um Gelehrtenrepublik oder Schule der Atheisten als Fantasy verfilmen oder als Comic zeichnen zu lassen, dafür fehlt der Fa. Schmidts Erben der Humor. Dass Schmidt selber das Lachen oft verbeißen musste, ist späten Fotos anmerken, z. B. dem, wo er Belege von Zettel's Traum kriegt und mit seiner Frühstücksmilch winkt (aber das täuscht, nach Erinnerungen der Haushälterin soll er anschließend Gläser randvoll mit Racke Rauchzart rumgereicht haben). Kurz, der war gar nicht so. Er beißt nicht, will nur spielen; glaubt mir, das Grantlertum bei Kraus, Bernhard oder Achternbusch ist auf Dauer viel, viel nervtötender.


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  • Jetzt ist also der 100. Geburtstag von Arno Schmidt vorüber, und vermutlich darf das Presseecho, wie ja schon 1979 die reichhaltigen Nachrufe, darauf hindeuten, dass der Autor in die deutsche Nachkriegs-Literaturgeschichte eingebürgert wurde. Inklusion, yeah, gewissermaßen, und das war auch nötig, denn als Wortmächtiger Rebell ließ Arno, so Klaus Bellin im Neuen Deutschland (18.1.2014) nicht mit sich spaßen: "Wer Mäßigung von ihm verlangte, ein paar Zugeständnisse vielleicht, war an der falschen Adresse." Im selben Blatt hatte am 14.1. Martin Hitzius festgestellt: "Heute würde ein Arno Schmidt als Asperger-Autist mit erschwerender Hochbegabung diagnostiziert und integrativen Maßnahmen zugeführt werden."
    Ein "Grantler mit riesiger Zettelwirtschaft" war Schmidt laut Roland Mischke im Südkurier (18.1.2014), und auch Ulrich Rüdenauer in der Zeit  (18.1.2014) ist der große Grummler, Misanthrop und Grantler eine aufmunternde Betrachtung wert: seine "leicht missmutige, misanthropische Stimmung gepaart mit unbedingtem Schreibwillen", der "Gesichtsausdruck [...] meistens: trocken, sachlich, mürrisch", der "stiere Buchhalter-Blick": da ist am "Geniestatus kaum zu zweifeln". Und Leser mögen, fordert der Journalist auf, "sich ranhalten und getrost mal einen Bogen um den neuen Dan Brown oder Daniel Kehlmann" machen, dies illustriert mit der extrem unscharfen Aufnahme (oder braucht es dazu eine Brille von "28 Dioptrien", taz v. 17.1.2014) eines Zettelkastens.
    Mein Elvis hieß Arno, lautet das Bekenntnis eines "abgeklärten Jüngers" und "Ex-Fan, der nun lächelnd auf die Torheiten der Jugend zurückblickt" namens Kurt Scheel ("als Literaturwissenschaftler selbstverständlich" - selbstverständlich? - "Avantgardebefürworter") in der taz vom 18.1.2014. In jüngeren Jahren, Oktober 1971, war derselbe Scheel nämlich bei einer von Jörg Drews veranstalteten Tagung in Bargfeld gewesen, hatte ein Bier nach dem andern in Bangemanns Gastwirtschaft gesoffen und sein Bild kam in den Spiegel: "Ich bin der zweite von rechts, dieser schlanke Jüngling im weißen Anorak." Rückblickend auf das Romanwerk beklagt er sich aber "kopfschüttelnd über die Enge des dort herrschenden Denkens und die Aggressivität des soziophoben Intellektuellen". Ein Scheelm, wer Böses dabei denkt! Manche suchen in der Literatur die Bestätigung eigener Ansichten und Weltanschauungen, und so blieb Schmidt bei Scheel vor allem ein "missgelaunter Misanthrop, ein Angstbeißer mit leichtem Asperger-Syndrom" und, als besonders übel, als "Beatles-Hasser" in der besonnten Erinnerung. - "Je nach Lust und Laune warf dieser Schriftsteller alle bekannten Rechtschreibregeln über den Haufen, die uns gerade eingepaukt worden waren", erinnert sich auch Wolfgang Müller im Freitag (17.1.2014): "Dabei sah Schmidt eigentlich selber aus wie ein Stereotyp des spießigen Studienrates", und die Beatles habe er gar als "Krampfhennen" bezeichnet.
    Der unvermeidliche Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeinen findet "Löcher in jenen Konzeptarchitekturen", die Schmidt mit den gemäß seiner Berechnungen verfassten Romanen hinterlassen habe; der Kritiker selbst hält sich zurück, beschwört aber, Leute zu kennen, die sich beschweren, "dass das, was bei Schmidt anfangs charmante Tricks sind, später monomane Ticks werden, oder darüber, dass er am Ende so wenig an einem Gegenüber auf gleicher Höhe interessiert war, dass auch sein erotisches Ideal nur mehr das unmündige Mädchen sein konnte, das ihn anhimmelt".  Andererseits sei er "für allerlei Schrullen, die aus der splendid isolation folgten, kultisch geliebt" worden (Feuilletonredaktionen sollten jedesmal, wenn im Zusammenhang mit Arno Schmidt ein Begriff aus dem Wortfeld "Kult" fällt, ans Autorenversorgungswerk der VG Wort einen Cent abführen). Im Übrigen habe Schmidt - bei Datmier Dieth geht alles immer ein wenig von hinten durch die Brust nach vorne - als "der größte je vorhandene deutschsprachige Science-Fiction-Autor" einen Code vorgetäuscht und "musste so tun, als gäbe es den Code, der seine Versuche absichern konnte, aber seine Versuche zerstörten diesen Code immer gerade da, wo sie glückten".
    In der Süddeutschen Zeitung machen mir die Stichworte Spaß, unter denen ein namenloser online-Arno-Schmidt-Artikel, für den der Volontär eigens in die Lüneburger Heide auf die Pirsch geschickt wurde ("Irgendwo in der Ferne brummt der Motor einer Landmaschine") thematisch verlinkt ist; man könnte sie auf Zettel schreiben und wie Spielkarten mischen, bevor man mit der Niederschrift des Artikels beginnt, aber auch in alphabetischer Reihenfolge hintereinander gelesen ergeben sie den abgeschlossenen Kurzroman: "Arbeitszimmer, Auto, Celle, Erde, Film, Grundstück, Günter Grass, Hamburg, Heinrich Böll, Herzinfarkt, Jan Philipp Reemtsma, Kaffee, Lüneburger Heide, Museum."
    Malte Bremer auf literaturcafe.de ist Arno Schmidt nie begegnet und "wollte das auch nicht; er war wohl sehr miesepetrig, wenn nicht gar menschenfeindlich!" Dafür war Leviathan das "einzige Buch, dass ich jemals geklaut habe", heute ist es Malte peinlich; er büßte es durch Ankauf der Bargfelder Ausgabe der Arno-Schmidt-Stiftung.
    Vielleicht aus ähnlichen Motiven sang Götz Alsmann im Hamburger St.-Pauli-Theater und in der Bar jeder Vernunft ausschließlich "Schlager, die Arno Schmidt hasste" - bisschen gemein, oder war das nur ein Versuch, mit dem ohnehin vorgeplanten Repertoire "auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren" zu wollen, wie 1979 Oswald Wiener (den Wolfgang Müller im Freitag zitiert), bzw. etwas Aufmerksamkeit abzusahnen?
    - Als "spleengeschüttelter Sprachzerknackungskauz", als " hinter Bildungssperrmüll verbunkerter Menschenfeind, ein frustrationszerfurchter Lebenswegentgleister mit herrenmenschelnden Titanenallüren" wird Arno Schmidt von Thomas Klingenmaier in der Stuttgarter Zeitung (19.1.2014) gewürdigt. Aber! Damit ließe er sich wohl beschreiben, jedoch "nicht fassen", fährt der Autor versöhnlicher fort. Er versucht es daher andersherum und beschreibt ihn "als polymorphes Bildungswunder, als Neugierkrake" im "Schreibstubensoziotop", der den "Absprung aus dem häuslichen Wohnküchenmief in ein geisteswissenschaftliches Studium" nicht geschafft habe. Bis zu Kaff, auch Mare Crisium, jenem bereits mehrspaltigen Roman, bei dem auch Kurt Scheel von der taz aufgehört hat, bildeten die Schmidts Werke ein "faszinierendes Konglomerat aus Kleinbürger­ressentiment, Anarchistentrotz, Patriarchenpeinlichkeit, Hirnkometenglanz, Bildungshuberei, Denkmalstürzerwut, Natur- ­begeisterung, Sprachanalyse, Genialität und Taschenspielerei". Dann aber kam mit Zettel's Traum eine "jahrelang die Produktivkraft bindende Selbstkarikatur" des Romanciers zum Vorschein, der sich "in den eigenen Methoden, Besessenheiten und Gaukeleien" verfangen hatte. - Auch für Lutz Wendler vom Hamburger Abendblatt (18.1.2014) ist Schmidt als "Autor des größten, schwersten und schwierigsten deutschen Romans berüchtigt. Das Buch- und Sprachungetüm wurde zum Synonym für unzugängliche Literatur".
    Überhaupt, Zettel's Traum macht den Geburtstagsartikelschreibern zu schaffen: Ein "kryptisches Über-Buch", "eine Obskurität mit Garantie auf Wertsteigerung", meint der MDR auf seiner Webseite: "Allein dieses Mammutwerk macht ein Viertel seines Gesamtwerkes aus. Neun Kilogramm 'Hardcore-Literatur' in acht Büchern". - "Es wimmelt von einzelnen Buchstaben, Zahlen, Plus- oder Auslassungszeichen", stellt Thomas Groß im morgenweb für den Rhein-Main-Kreis fest: "Spröde wirkt es, doch etwas näher betrachtet auch ungemein plastisch, sinnlich, oft witzig, immer hintersinnig - so wie alles, was der literarische Außenseiter zu Papier brachte." - Da habe man es mit "einer literarischen Abrechnung" zu tun, "in der die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Schriftsteller Edgar Allen Poe und dessen Werk eine zentrale Rolle spielt" (NDR-Webseite). -  "Schmidt hält sich immer weniger an die deutsche Rechtschreibung", wundert sich Ronny Arnold auf der Deutsche Welle-Webseite, "vielmehr erfindet er einen eigenen, ungewöhnlichen Schreibstil, spielt mit Worten und Kalauern, orientiert sich an Dialekten". - "Das Buch ist nicht unlesbar", begütigt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger, "wie manche behaupten. Aber es überfordert sicherlich den unvorbereiteten Leser. Und das nicht nur wegen des Schriftbilds. Die Seiten sind in drei Spalten aufgeteilt, drei Textflüsse, die sich gegenseitig kommentieren." - Gabi Wuttke von der Neuen Zürcher Zeitung machte es sich leicht und verabredete sich mit einem Menschen, der das Buch auf jeden Fall komplett gelesen haben muss, dem 71-jährigen Amerikaner John Wood, der es ins Englische übersetzt hat: "Glücklich die Momente, wenn er möglichst viele Bedeutungsschichten der Etyms zu fassen bekam; besonders die Aha-Momente, in denen in einem englischen Äquivalent eine Bedeutung aufblitzte, die dem zweisprachigen Schmidt im Deutschen offensichtlich entgangen war."
    Aber es müsse, wenn man partout etwas lesen wolle, "ja nicht unbedingt Zettel's Traum sein", mit dem sich "sich Arno Schmidt in eine Sackgasse geschrieben hatte. Er hatte den Kontakt zum Leben und zu den Lesern fast gänzlich abgebrochen", wie Jürgen Strein in den Fränkischen Nachrichten (18.1.2014) beklagt, wortgleich sekundiert von Martin Willems in der jungen welt (16.1.2014): "Es muß ja nicht sofort der klobige Textbrocken 'Zettel's Traum' sein." Und was gibt es sonst? Wir wollen auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren! die Duisburger Stadtbibliothek zeigt Pocahontas-Illustrationen und lässt Reemtsma vorlesen, 5.2.2014, 16.30 h., nur: Jan Philipp Reemtsma muss es auch nicht unbedingt sein.


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  • Der Allgemeine Deutsche Autorenclub ADAC hat zugegeben, dass die Umfragen zum "gelben Schutzumschlag" des Jahres gefälscht waren. Der Chefredakteur der Zeitschrift "Autorsport" hat bereits seinen Rücktritt erklärt, nachdem herausgekommen war, dass die Teilnehmerzahl bei der Umfrage bedeutend von seinen Angaben abgewichen war: Keine bombastischen "35.000" Leser hatten für Daniel Kehlmann als beliebtesten Autor Deutschlands gestimmt, sondern grade mal 3.500. Dabei war die Berechnungsgrundlage längst gelegt, man Arno_Schmidt_Buechertischmuss nur Arno Schmidt nachschlagen: Bei der Gesamtzahl der deutschsprachigen Nicht-Analphabeten kann man nur die dritte Wurzel aus P ziehen, um die "Kulturträger" zu ermitteln, die sich mit viel Mühe, Ausdauer und Kosten in Dichtung vertiefen (und einen pannenfreien Lieblingsautor haben), bei 60 Millionen "wären es 390 etwa, 390, mehr sind es nicht", so Arno Schmidt, Ehrenmitglied (ungelogen!) im ADAC-Motorsportclub Uckermark-Prenzlau e.V. Und selbst diese 390 "sind schon Amateure, wenn Sie jetzt die eigentlichen Kulturerzeuger von mir wissen wollen, dann müssen Sie daraus noch mal die dritte Wurzel ziehen, das sind dann sieben bis acht, höchstens." Aber unter diesen 7 bis 8 den Lieblingsautor der Deutschen zu küren, muss ich nur the one and only kennen - meinen eigenen!

    "Auch ein unsichtbares Motorrad sprudelte auf und zog dann die kleiner werdenden Schallperlen hinter sich her", Alter DDR-Wechselscheindieser Satz aus dem Taschenbuch Sommermeteor, bzw. der mich noch heut nicht kalt lassenden short story Nachbarin, Tod und Solidus hat mich, das muss 1971 oder 72 gewesen sein, ergriffen, ich arbeitete damals in einem Seifenlager von 7.00 morgens an, wenn es noch dunkel war, und kam aus dem Werk heraus, gegen halb fünf, wenn es gerade wieder dunkel wurde. Das Seifenlager war das Kellergeschoss einer Kurzwarenfabrik, die angesichts wachsender Konkurrenz immer weniger produzierte und deren Besitzer in weiser Voraussicht in den Speditionshandel eingestiegen war. Von hier wurden die Waschmittel, Niveadosen und Kosmetika an die Drogerien (gab es damals noch) der Stadt ausgeliefert. Nach einer Liste zählte ich die schönstduftenden jugendstil-dekorierten Roger & Gallet-Spezereien ab, ich liebte diese Schmuckschachteln so sehr, dass ich mir am liebsten welche mitgenommen hätte, stapelte sie in schnöden Pappkartons, die in vergitterte Rollcontainer kamen ("Container" sagte damals noch keiner, das rechte Wort weiß ich nicht mehr!) und wenn alles fertig war, schob man die parfümierten Käfige zum wartenden LKW auf den Hof. Der Fahrer half nicht dabei, der qualmte sich unterdessen eins, vielmehr half man ihm beim Entladen, wenn neue Ware kam. Den obengenannten Satz aber las ich während der Mittagspause in einer Werkswohnung auf der Toilette, die ich netterweise benutzen durfte (der Sohn des Personalchefs hatte mir diesen Job verschafft). Drei TramperDer eigentliche Hausherr war nicht da und ich lieh mir das Buch, nachdem ich jenen mich geradezu umwerfenden Satz gelesen hatte - nie hatte jemand in meiner Umgebung meine (Miß-)Wahrnehmung der Welt so plastisch ausgedrückt - , bis auf weiteres aus. Die Arbeit war hektisch, ab ca. 14.00 ließ das nach, dann war Zeit totzuschlagen. Ich konnte mich also hinter die Seifenkistenregale verziehen und lesen!, und mein Vorarbeiter, dem ich eigentlich nur beigesellt worden war, weil er eine Kriegsverletzung am Bein hatte, pflegte zu sagen, "wenn jemand kütt", wisse ich Bescheid (auf deutsch hieß das, ich solle mich beim Auftauchen anderer Werksangehöriger  darauf besinnen, dass der Boden auch mal wieder gekehrt werden müsse, was ich dann, das Buch rasch hinter den Warenkisten verstauend, übereifrig tat, um anschließend die Lektüre wieder aufzunehmen). Meine Existenz hing sowieso nicht davon ab, das war nur ein Ferienjob, sonst besuchte ich die Obersekunda, wohnte noch (aber nur mehr für ein Jahr) im Elternhaus, das ich mit Kindergeld und Waisenrente munitioniert mit 17 zu meinem Segen verließ. Das Geld wurde übrigens noch in Lohntüten ausgegeben, obwohl ich sogar - wegen Gründung eines Science-Fiction-Clubs - mit 12 bereits ein Girokonto hatte.

    Natürlich gab es auch andere Hammersätze in dem Buch (eigentlich waren diese Sachen vorher in Zeitungsfeuilletons und dann 1966 in Trommler beim Zaren veröffentlicht worden), "wie das Klavier unter Emmelines Pfötchen nervös brüsselte, dicke Blasen stiegen auf; im Baß blubbte es manchmal suppen", las ich in der Titelgeschichte Sommermeteor, einer der schönen Stürenburg-Erzählungen, die großenteils aus Tieck-Novellen und anderen Quellen des 19. Jhds. transformiert wurden; oder diese Erkenntnis: "Im Allgemeinen bin ich am liebsten allein", nichts konnte mir mehr entsprechen in meiner pubertären Schwerstkrise (die eigentlich seitdem anhält), oder der letzte Absatz einer Prosaarbeit Was soll ich tun?, die zwischen Essai und Kurzgeschichte schwankt: "Schlafbücher müßte es geben; von zähflüssigstem Stil, mit schwer zu kauenden Worten, fingerlangen, die sich am Ende in unverständliches Silbengekringel aufdrieseln; Konsonantennarreteien (oder höchstens mal ein dunkler Vokal auf <u>): Bücher gegen Gedanken. Was soll ich bloß tun?!" Ich wußte, was zu tun war, und las dann auch bald Romane, in denen die einzelnen Absätze snapshots eines Fotoalbums waren und von kursiven Einstiegs-Schlagzeilen eingeleitet werden. Ich las die alten Spiegel-Artikel und die Pardonheftchen meiner Brüder, in denen sich Essays oder Polemiken oder Rezensionen von Arno Schmidt fanden. Ich las das frühe Oeuvre mehrmals, alle paar Jahre fing ich wieder von vorn an, denn man konnte ja unmöglich alles auf einmal aufnehmen, immer wieder fanden sich neue übersehene Details. Ich las mehrspaltige Romane mit unterschiedlichen Handlungssträngen, eingeklebten Bildchen oder Rundfunkdialoge, im Verhau der Satzzeichen ! - !! - !!! die mathematischen Formeln und obskuren Theorien, das Dickicht der verrücktesten Fremdwörter, Langzitate aus entlegensten Schwarten,  - da stimmte einfach alles, selbst die merkwürdige Orthographie, die nur von einem stammen konnte, der Comics gekannt oder den Computercode vorweggeahnt hat - und ihr könnt mich totschlagen, ich verstand auch das meiste mit meinen Siebzehn!

    Ich bin dann kein allzufanatischer "Fan" geworden, habe nie den Bargfelder Boten abonniert und wollte mich auch gar nicht "Jünger" nennen. Es gab ja auch andere Götzen: Lyriker, U-Comix, Surrealismus, Herr der Ringe, Liedermacher, Sri Aurobindo, Landkommunen, die Frankfurter Schule, ZEN, der ganze Popmusikkram, das habe ich alles wohl aufgenommen, allein von den deutschsprachigen Autoren, deren Gesamtwerk mir einigermaßen vertraut ist, wären einige zu nennen. Aber Arno Schmidt, mit dem habe ich durch Vorlesen, Aufdrängen, Empfehlen und Immerwiederdraufzurückkommen - seufz, stand in der Denkblase meiner Schulkameraden, die schon meine Ausgabe von Becketts Warten auf Godot unter der Bank lesen mussten - alle möglichen Leute behelligt und dabei einige Schmidt-Leser und, manchen wird's wundern, gerade Leserinnen gewonnen Seite aus dem Tagebuch 1973und begeistern können (eine hat sich mal zum Abholen eines der von mir zugesandten Spät(groß)werke von der Poststation eigens ein schickes Kleid angezogen, wie zur Verlobung, nicht mit mir, ich war nur das Schadchen oder der Schlattenschammes, sondern mit dem Solipsisten mit dem freudianischen Etym-Tick!). Natürlich unternahm ich den obligatorischen Ausflug ins Mekka der Lüneburger Heide, nach Bargfeld, als der Mann schon nicht mehr lebte, und habe ganz köstliche olle Heidekartoffeln mitgebracht, welche sich die Bäurin fast schämte zu verkaufen, die waren die leckersten meines Lebens und schmeckten mir und meiner Liebsten wie dem König im Märchen, der sie mit Eidottern vergleicht! - Deckel Literaturquartett mit Arno SchmidtSelbst Ernst Krawehl, mit dem ich an seinem eigenen S. Fischer-Schmidtspezialstand der Frankfurter Buchmesse mal gesprochen hatte, gab ich mich nicht als Eingefleischten zu erkennen, sondern tat so, als hätte ich keine Ahnung. Inzwischen selber in einem Buchverlag tätig, fragte ich ihn, ob er Schmidts Prosa redigiert habe, da sah er mich strafend an und entgegnete so etwas wie: "Einen Arno Schmidt redigiert man nicht, da wird vielleicht alle 100 Seiten mal auf ein fehlendes Komma aufmerksam gemacht" etc. - Ich las natürlich alles im Taschenbuchformat. Mein Gott, 1972, 1973 gab es noch alles in Erstausgaben zu kaufen (ich erwarb Abend mit Goldrand zu Lebzeiten des Autors in einer signierten Subskriptions-Ausgabe, die ich allerdings in einer Pleitephase verkaufte und gegen eine nichtsignierte eintauschte), die dann später so maßlos im Antiquariatspreis emporschnellten, dass der Hype bald zusammenbrach wie die Amsterdamer Tulpenhysterie von 1634. Natürlich folgte ich auch Leseempfehlungen des Meisters, wenn auch nicht in alle Winkel (kein Karl May, Frenssen, Wilkie Collins, und nur in homöopatischen Dosen Schefer, Verne, Herder oder Bulwer-Lytton) und las bis in die 80er Jahre so ziemlich alles von ihm selbst, dessen ich habhaft werden konnte. Aber ab wann nahm der Schmidt-Stil Einfluss auf mein eigenes Geschreibsel? Denn dass sich der Autor dieses Artikels von 1979 ganz schön an Arno Schmidt heranwanzt, war doch wohl unverkennbar.

    Es muss zwischen Lebensjahr No. 15 und 17 gewesen sein, dass ich meine Arno-Schmidt-Initiation (Inkubation, Infektion, Injektion) erhielt, meine Tagebücher vorher sind eher umschmidtsch, z.b. hier vom 15. August 1970, da war ich vierzehn:

    Dritter Tag, nachmittags. Ich befinde mich in den Dünen Zandvoorts. Die hügelige Landschaft, die aus Sand, Erde und großen Grasnarben besteht, übt einen seltsamen Einfluß auf mich aus. Ich habe manchmal das Gefühl, als wäre es besser, wenn es keine Städte gäbe und nur wenige Menschen. Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, man wäre allein an den Dünen, allein mit der Sonne, den Wolken, der Musik des Windes und des Meeres, ohne Minen, die das Betreten von manchen Landstrichen lebensgefährlich machen, Stacheldrahtzäunen, die das Betreten verhindern, ohne Abfall, der herumliegt, ohne die Geräusche der Flugzeuge und Motorräder und ohne eine Stadt, die hinter der Hügelkuppe auftaucht. Manchmal habe ich das Bedürfnis, kilometerweit, ja, Hunderte von Kilometern zu wandern, ohne ein Zeichen von Zivilisation zu sehen außer ein oder zwei Bauernhöfe, die sich freuen nach langem wieder ein menschliches Wesen zu sehen und ihm Nachtlager zu gewähren. Schade, daß so etwas nicht mehr möglich ist

    ...und hier ein Beitrag vom 19. März 1973:

    Ich liege wach und erwarte den Schlaf. Um nur die Wartezeit zu verkürzen, tue ich so dies und das. – Ich denke nach, stehe am Fenster und  rieche die kühle Nachtluft, schreibe im Schein der Petroleumfunzel ein paar Zeilen. In Wirklichkeit weiß ich aber, dass der Schlaf  sich um so mehr Zeit läßt, je mehr ich mir die Wartezeit vertreibe. Er fürchtet sich vielleicht vor Büchern, Fenstern, Gedanken und Petroleumfunzeln (wie überhaupt vor Lampen). Weiß ich?
    Ich habe in letzter Zeit viel geschrieben. Leider muß ich wohl den Füller mit grün und violett verloren haben, das wird euch vom Lesen abhalten. Ich habe in der Tat die letzte Woche über mehr geschrieben als den ganzen Monat davor. Zumal habe ich Angst, es könnte Unüberlegtes und zu Spontanes dabei sein. WARUM GERADE AUSTRALIEN erkenne  ich voll an, auch die Notizen unter den Datumsangaben - sie sollen ja gerade spontan sein. Aber VERSUCHE, TO A LADY, I WISH und das andere Gedicht –  ich weiß nicht recht. Ich bin mir nicht sicher. Ist das die Oberfläche der Sonne? Sind dies Strahlen, staubige Flecken? Vielleicht sind es Sonnenflecken. – Vieles ist auch zu verstehen, weil ich krank bin.
    Leise Geräusche der Nacht sind zu vernehmen, ich meinen Ohren summt das Blut seine ewige Melodie, die am Tage ungehört verhallt. Werde ich heilen?

    Im Herbst 1973, nach einer Bootstour mit Freunden, bei der wir beinahe von einem sog. "Euro-Container" überfahren worden wären, notierte ich dann dies:

    Stromabwärts. Eine Segeletappe Nachts - Fockleine war fest gestellt, und der Nachtwind blähte das geisterhafte Segel nur schwach - durch den schwarzen Strom gleitend unter tausend unbekannten Sternen. Dieselbe Nacht eine Nacht der tierischen prähistorischen Angst, des dumpfpochenden Urtriebs; als der Saurier mich zu töten versuchte, wäre ich nicht unbald über der Wupper gewesen. Die Rückkehr in Regen und Wolken, auf dem schnellen Rhein 1 Tag 60-70 km (gerudert) , aber auch jeder einzelne Stofflappen war naß. Die alte Hexe, die uns im Audi 80 nach *** fuhr, war wohl zum ersten Mal überrumpelt worden (ihre Kristallkugel war beim Polieren in der Werkstatt).

    Und zum Schluß noch vom 6. August 1978 ein Eintrag in mein "Lesetagebuch", das ich mir als frischgebackener Student vorgenommen hatte zu führen und auch ein paar Bände lang durchhielt:

    Schmidt, Arno Berechnungen I

    Habe mir den 2001-Nachdruck der Anderschzeitung TEXTE UND ZEICHEN ausn 50igern besorgt, und was tu' ich? Drin rumschmökern (anstatt den J[ean] P[aul] fertigzukriegen, Tristan anzufangen oder Fontane zu vertiefen) – Heyhey, mein lieber, schnakisch schnakisch was Er da schreibt, gehört mit bei Weitem zum nützlichsten + besten was mir von dem Herrn geläufig ißt (und mir ist (beinah) Alles geläufig!) – Er hat  da ne interessante Formanalyse des eigenen Werkes gemacht: Entscheidend ist Bewegungskurve + Tempo der Handelnden im Raum, d.h. Bei Umsiedlern hektisch-eisenbahnig, bei Pocahontas einkreisend-umzüngelnd, soso. Das kann ich evtl. guten Zwecken dienstbar machen: DAS müßte ich doch auch können? M. Wissens hat das noch keiner so gesehen (= genial, genial!). Wie hat er das denn dann zum Dialogroman weiterentwickelt? Da ist er sich doch spätestens im Goldrand (auch schon Z[ettels] T[raum], der Scheuß*) untreu geworden, denn soviel langsätzige literarische Reflexion in so enger Handlung wie z.B. Abfahrt von Franziska oder Walburgißnacht, dazu iss doch gar kein Platz? Da beschreibt er doch immer noch umständelnd weiter? = Aber vielleicht ist das die Lynkeus-Position, er sitzt im Bargfelder Leuchtturm und nimmt selbst das Getümmel seiner Personnage nur noch zähflüssig-greiselnd wahr!! Aber für's überschaubare bis Caliban [auf Setebos, eine Erzählung] herphoragent und ich will sehn, ob ich damit nich'n bißchen experimentiere. Es ist so klar und einsichtig-dödlig wie irgendn Rätsel, wenn man die Lösung kennt. Der Meister verrät seinen Zauberspruch, dz! Nur gut, daß es das in Taschenbuchform noch nicht gibt.

     *kein Verschreiber für "Scheiß", das soll "Joyce" heißen, nach dem Wortspiel "Schäms Scheuß".

    Lieferschein zu Zettels Traum


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  • Gepflanzt in VanHam-Neubaudie Einöde der Ausfallstraßen wie ein erratisches Gewächs, zwischen Beton, Baustellen und magisch leuchtenden Autohändlerpalästen, findet sich - Kultur. Fast fertig ist das Auktionshaus von Philip Vandamme, das der Ostspion aus Hitchcocks North by Northwest (unter einem sehr durchsichtigen Tarnnamen) ganz im Bauhaus-Stil seiner berühmten Mount Rushmore-Villa  an der Brühlerstraße errichten konnte, ohne dass FBICIABNDNSA von der wahren Identität des Kunstmaklers das Geringste ahnt... Bald wird man hier den Malteserfalken versteigern! Und dann das Literaturarchiv des verrückten Urwalddoktors und Westentaschengermanisten,Antoine Tamestit der mit einer Horde von Eichhörnchen und Papageien im Tannendickicht haust und zwischen Bergen messiehaft angesammelter fotokopierter Aufsätze, antiquarischer Raritäten und unschätzbarer Autographen fast erstickt. Und schließlich der Deutschlandfunk, er bietet - zumindest im Winter - schöne Konzerte an, in seinSpruch auf einer Bank am Rheinem Kammermusiksaal, natürlich nicht für "die Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und niemals empfängt" (Rilke), sondern für die wahre Elite - Inkognito-Millionäre wie uns.

    Das war letzten Dienstag ein gutaussehender Bratschist aus Frankreich, der beim Spielen in den Knien wippt und den Rhythmus der Bach-Suiten ganz aus dem Körper herauszieht. An seiner Seite ein bärtiger Italiener, der schwarzweiße Tastaturperlen aus dem Flügel pickt oder stakkatomäßig hineinklopft und dabei aussieht wie die Avantgarde um 1910, auch in einem Historienfilm über den deutschen Vormärz würde ich z.B. Karl Gutzkow mit ihm besetzen. Antoine Tamestit spielt auf einer echten Stradivari von 1672, Leihgabe einer Museumsstiftung, und hat eine raffinierte Schabetechnik beim Gebrauch des Bogens entwickelt, mit dem er das Gniedelige am Streicherton aufrauht, eine süße Heiserkeit, die dem perfekten Wohllaut neue Dimensionen eröffnet. Währenddem scheint der Pianist Enrico Pace mit dem Instrument zu sprechen, reißt die staunenden Augen auf ob des geklärten und manchmal auch ungeklärten Wirrwarrs von Tönen, die da aus der Hindemith-Partitur herausquWeihnachtsbaumcontainerellen. Das war ein Werk aus dem Jahr 1936, als Hindemith - selbst ein begnadeter Bratschist - in Ankara tourte; noch im selben Jahr wurden die Werke des "Kulturbolschewisten" verboten (mein Freund Eckhard John hat über dieses fatale Totschlägerwort eine fundierte und materialreiche Studie geschrieben); 1938 ging er mit seiner Frau Gertrud Rottenberg, Enkelin des Bürgermeisters von Dortmund, Altona und Frankfurt am Main Franz Adickes, ins Exil. Später hörten wir die Sonate für Viola und Klavier op. 11, No. 4, aus dem Dezember 1918. Merkwürdigerweise war damals schon alles angelegt, was uns am Heavy Metal der späten 1960er faszinierte, von Hendrix bis Led Zeppelin ("das rockt!", urteilte ich im Stillen) - wären die Deutschen nicht Duo Tamestit-Pacemit voller Überzeugung und gern den unseligen Weg in den Nazismus gegangen, hätte Hindemith die pianistische Avantgarde der Franzosen und Russen des Fin de Siècle in der Musikgeschichte bald überstrahlt, schon weil er mehr Humor hatte als Ravel oder Debussy. Dass er allerdings zu seiner Gertrud "Wapuff" sagte - so wörtlich im Programmheft zitiert - und von dem "duften langsamen Satz" meinte, er habe anschließend noch eine "ausgewaschene Krips-Arbeitsplatz Doppelfuge dahintergesetzt", damit Wapuff "vor Neid die Platze kriegt", das macht einen doch nachdenklich.

    Das erste Stück (Sonate für Klavier No. 3) von 1918 spielte der Bratschenmann ebenfalls noch auswendig; gut, das konnte er auch, mit der Suite für Violoncello No. 3 in C-Dur, Bachwerkeverzeichnis 1009, mit seiner Stringenz und Fugengenauigkeit ist Bach doch viel leichter zu merken, oder? Nicht, wenn man so frei und locker streicht wie Antoine Tamestit. Als wir neulich über ein Geschenk für einen Neunzigjährigen nachdachten, - Süßigkeiten, Bücher, das belastet alles, da kamen wir auf CD, aber welche Musik und ich sagte zu meiner Frau: Bach kann man sich in jedem Lebensjahr zumuten, manche sagen gar: je älter, je eher. Auf Bach wird man immer zurückkommen. Aber dieser 1979 geborene Franzose spielt den Bach gar nicht so methodisch-logisch, mehr wie ein Spielmann, der auf einer Kirmes den AlleinunterhaltStudio des Künstlers Kripser gibt - "er erzählt eine lange Geschichte", begeisterte sich ein befreundeter DLF-Journalist, den wir in der Pause zufällig im Foyer trafen. Der dritten Suite mit ihren Allemande-, Courante-, Sarabande-Sätzen hat Tamestit die Farbe Enrico Pace"sonnengelb" und die Adjektive "brillant, efflorescent, populaire, volutes, énergique" zugeordnet, so steht es im Programmheft und im Beipackzettel der CD, die meine Frau - ohne den Künstler, der garantiert Weltruhm erlangen wird, signieren zu lassen! - erwarb. Andere Suiten sind mehr sombre und funèbre (No. 5), also fast schwarz, oder hellblau (No. 1). Wie dem auch sei, das Bachige vermählte sich vorzüglich dem Hindemithschen in den folgenden, für Bratsche und Klavier komponierten Programmteilen, und die beiden Musiker hatten Spaß dran und sichtlich auch miteinander. Wir gingen nach dem Verzehr von zwei DLF-Bonbons, gewickelt in die korporativen Farben orangegelb und blau (schmecken aber nicht unterschiedlich: blau wie orange sind vif, fraîche, mehr menthe als funèbre), und eiFirma Klafsner DLF-hausgemachten Frikadelle sowie eines Glases Prosecco sehr beseligt zu Fuß nach Hause, während lange Kolonnen feinster Vorzugsklassewagen dem Parkhaus entströmten und sich Richtung Brühl, Erftstadt, Bonn - der Speckgürtel unserer schmuddeligen Vaterstadt - aufmachten. Hier aus dem Viertel, schon gar nicht von der "prolligen" Genossenschaftsecke, sind die wenigsten, höchstens dass sich vielleicht ein paar Villenbesitzer aus Marienburg hier einstellen (denk ich mal, aber sicher bin ich nicht). Es ging uns wie in diesem Kempner- oder Schrader-Gedicht, das ich jetzt nirgends finde und das wahrscheinlich vom Großneffen gefälscht wurde: "...ganz anders ist da doch Musik / daß es sie gibt, ist schon ein Glück!" Zwei Konzerte wird es hier noch geben, im Februar und März, und Anfang April kommt hier wieder das Forum neue Musik, bei dem wir hoffentlich auch noch Interessantes zu hören bekommen. Eine Tageskarte (bis zu 3 Konzerte) kostet im DLF nur 15 €, geGoltsteinstraßeht doch noch, das Kino ist heute auch nicht viel billiger, und: "Die Hinfahrt können Sie mit dieser Karte bereits vier Stunden vor Veranstaltungsbeginn antreten, die Rückfahrt muss erst bis 3.00 Uhr nachts - bzw. bei besonders spätem Veranstaltungsende bis 10.00 Uhr des Folgetages - abgeschlossen sein. Diese Zusatzleistung ist ohne Mehrkosten für Sie bereits im Ticketpreis enthalten."

    Natürlich gibt es auch noch andere Kultur im Süden, so existiert in der Goltsteinstraße eine Karikaturengalerie namens "roter Pinguin", deren jüngste Ausstellungseröffnung wir am Nikolaustag verfaulenzt haben. Vielleicht, weil mir der Comic-Zeichner, dessen Sachen ich eine Zeitlang täglich im FAZ-Feuilleton sah, nicht so wahnsinnig überzeugend erscheint; die dort zuKrips-Vernissage erwerbenden gerahmten Zeichnungen haben übrigens ziemlich saftige Preise. Dafür waren wir im vorverwichenen Herbst beim Tag des offenen Ateliers, oder war es die Eröffnung?, im Arbeitsloft von Krips Krips-Arbeitsmittel Computer- die Mutter des Künstlers war anwesend - , nicht zu verwechseln mit der Galerie des Sauna-Zubehörlieferanten Klafs, der bei ihm um die Ecke auf der Bonnerstraße angesiedelt ist. Die Heimat der Künste ist die Goltstein- / Ecke Cäsarstraße. Auf der ersteren wohnt u.a. Ralph Giordano (so stell ich mir Winnetou vor, wäre der nicht so jung verstorben), der uns mal vor dem Einbiegen in die Einbahnstraße warnte, auf der letzteren wäre ich beinahe mit dem Rad in den greisen, helmtragenden Dichtercäsar Erasmus Schöfer hineingeknallt, der, aus einem Seiten-Schleichweg kommend, die Vorfahrt zwar nach rechts, nicht aber nach links beachtete. Nach dem kompletten Nieder- ja, Untergang der Bezirksgruppe Köln des Schriftstellerverbandes, dem er seine DKP-Weisheiten aufgezwungen hat, wäre es ein denkwürdiges Zusammentreffen im Unfallauto gewesen. Hier auf der Cäsarstraße arbeitet jetzt Krips. Er liebt Graffito-Stil, und nicht ganz zufällig sind genau gegenüber seiner Galerie am aufgelassenen Netto-Markt, wo ich immer nur die verbilligten MHD-grenzwertigen Sachen gekauft hatte, ich habe erst kürzlich ein Foto davon eingestellt, mehrere Männlein übereck angemalt, die verdammt an seine gesprühten und getaggten Sachen erinnern. Auf großen Leinwänden finden sich Engelchen, Teufelchen, aber auch Panzerknacker mit Lupenaugen - sehr sehenswert! Gern verfremdet und markiert Krips seine Möbel und Haushaltsgegenstände, Krips-Sesselaber seine leuchtendbunten Malereien, oft collagiert mit Reklamefotos oder Wegwerfmaterialien, sind das Schönste aus seiner reichhaltigen Produktion. Das würde ich mir viel lieber kaufen als einen gerahmten tagesaktuellen Cartoon, und die Sachen waren damals (September 2012) auch deutlich preiswerter. Auf seiner Netzseite kann man in seinem Skizzenbuch blättern (ich liebe es, wenn bei interaktiven Umblätterseiten so ein schlürfendes Geräusch entsteht, wie es ganz am Anfang die ersten e-books von Reclam auch hatten - das finde ich sinnlicher als das ewige Klick-Klick), und unter dem Kunstwort "Komunikotinkation" findet man Krips' Mail-Adresse zum Bestellen. Guckt euch seine Bilder dort an - um keine Copyrightverletzung zu begehen, sind hier nur Schreibtisch und das ArbeitsgerätGudereit-Fahrrad von hinten des Meisters dokumentiert, der unserem Viertel mit seiner Spiel- und Farbenfreude hoffentlich noch lange erhalten bleibt.Krips-Arbeitsmittel Sprühdruckflasche

    Zur Goltsteinstraße kommt man von Raderthal aus nicht nur über die Cäsarstraße, sondern auch über den Bayenthalgürtel, wo, wer es mag, noch immer ein veritables "Fichtennadelbad" nehmen kann, man muss nur am Containerrand hinaufklettern und sich hineinstürzen und fällt garantiert weich. Wie neulich im Lokalsender zu erfahren war, werden die dysfunktionalen Sonnwend-Kultbäume den Elefanten aus dem Orient zum Fraß vorgeworfen, die seien, meinte der interviewte Tierpfleger, "nicht gerade ein Leckerbissen, aber mal so ganz nett zwischendurch", vor allem reizt es die Dickhäuter wohl, die Zweige mit dem Rüssel auseinanderzufleddern und die grünen Spitzen zu knabbern (womit ich schon wieder bei den Eichhörnchen wäre, wenn ich jetzt nicht schnell die Kurve nehme). Neulich las ich es als als Filzstiftspruch auf einer Ruhebank: Alles ist im stetigen Wandel begriffen; man kann sich in ein Gartengerät verwandeln; im Wald, den man vor Bäumen nicht sieht, wachsen die Tannen auf, um mit Lametta dekoriert zu werden (die Elefanten kriegen zur Verkostung nur die "unverkauft liegengebliebenen", sie vertragen das Lametta nicht), und werden vor der finalen Verschredderung als Weitwurf-Material für unsinnige Olympiaden genutzt, wie in einer anderen Sendung zu hören war. Ich finde, man kann die Tannen auch stehen lassen wie wir mit unserer Tanne im Kräutersack, und anschließend auspflanzen (was wir jedenfalls fest vorhaben).


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    In unserem Hof parkt mitunter ein Firmen-Lieferwagen mit der Aufschrift "F****y". Der Fahrer des Wagens hat in einer der Garagen ein Motorrad zu stehen. Wie ich herausfand, handelt es sich bei dieser Firma um einen Vertrieb für Spielautomaten, wie sie in allen möglichen Kneipen aufgestellt sind. Das ist wie bei Zigarettenautomaten so eine Pacht- oder Leasingmasche, was weiß ich. In meinem Leben habe ich nur ein einziges Mal einen Glücksspielautomaten (Tischfußball und Flipper zähl ich nicht mit) bedient und prompt gewonnen. Das war in dem Pizza-Lädchen namens "Deborah" in Duisburg. Der Besitzer gab auf Befragen an, die Pizzeria (in der es eigentlich nur Thekenverkauf gab, aber ein Tisch mit zwei Stühlen stand für den Notfall auch zur Verfügung, vielleicht auch ein Klo, aber bei Imbißbuden ist das so eine Sache...) nach seiner Tochter benannt zu haben. Da hing auch ein Spielautomat, ob von F****y betrieben, weiß ich nicht. Eichhorn im TopfDie Pizza hat mir und meiner Liebsten dort immer geschmeckt, und wenn wir zu faul zum Kochen waren, besorgten wir zwei Kartons. Aber weil wir sie mitnahmen und zu Hause verzehrten, mussten wir natürlich im Lädchen eine Weile warten und die Zeit totschlagen. Dazu setzen wir uns an das Tischchen, aber aus purer Langeweile warf ich einst ein paar Münzen in den Automaten (der auch schon unvermittelt vor sich hin dudelte und zwischendurch rief: "He, ein kleines Spielchen gefällig", ich glaube, das gab es schon) und drückte nach dem Zufallsprinzip ein paar Knöpfe mit "stop" und "go", wenn ich mich recht erinnere. Auf den Laufbändern rasten Zahlen, Früchte, Glücksklee und dgl.  herunter, und plötzlich hatte ich drei Symbole, Ananas vielleicht oder Bananen, nebeneinander, die ruckelnd stehenblieben. Prompt drehte der Apparat voll auf und blinkte, summte und zeigte mir alle möglichen Freispiele an, die ich gewonnen hätte. Inzwischen war aber dummerweise die Pizza fertig und ich hatte die Wahl: Friß oder spiel! Natürlich kriege ich wahnsinnig gern was geschenkt, und was mir aufgrund des (bei mir sehr seltenen) Spielerglücks zuteil wird, suggeriert einem ja gradezu, man hätte es sozusagen "verdient", unsauberer Gast beim Vollzugaber kalte Pizza mag ich nun mal nicht, bin auch gar keine Spielernatur, verliere bei allen Wetten, Schnickschnackschnuck-Entscheidungen und Autographen-Auktionen. Kurz, ich wollte die Pizza grade mal zu Haus in den Ofen werfen und dann einigermaßen im Frischezustand genießen. Zufällig war ein junger Mann zugegen, was sag ich, ein Knabe, der mir schon die ganze Zeit über die Schulter gekiebitzt und mir gute Ratschläge erteilt hatte. "Sie haben die 'Goldene' - haben Sie keine Ahnung?", so in der Art kommentierte er ziemlich abschätzig das Geschehen, aber sein Gesicht hellte sich sofort auf, als ich ihm meine Glückssträhne überließ und er nun die 12-oder-was-Freispiele abessen konnte, während ich mich mit dem Hauptgewinn, der köstlichen, wenn auch kostenpflichtigen Pizza aus dem Staub machte. - Spielen kann man auch im Hof, und Nachbarn von uns haben dazu eigens einen Sandkasten aufgestellt. Das war der Tag, an dem zwei Säcke im Keller lagen und ich gleich dachte, da war doch dieses Sommerangebot im Baumarkt - ZWEI Sandsäcke und eine Plastikmuschel zumEichhorn_an_Primel Auffüllen, knallblau wie eine überdimensionale Seifenschale und gegen Regen und Muff (und Hundedreck, wie man angesichts der hiesigen Usancen leider erwähnen muss, allerdings trauen sich die Hundebesitzer das nicht im Hof, was ich gleich berichten muss, sondern nur im Vorgarten) auch mit dem oberen Muscheldeckel wiederverschließbar. Natürlich wurde der Sandkasten längst eingeweiht und hat schon mehr als das Einzelkind vom oberen Stock in seiner Muschelschale gesehen. Nun kollidieren mitunter die Nutzungsinteressen der Mieter an diesem Hofgrundstück - ich hatte, man erinnert sich, in den letzten Jahren ein Tomatenhaus, aber es gefiel mir dort nicht mehr wegen einer Affäre um das Abschließen und den Besitz eines Schlüssels. Seitdem hab ich kein Tomatenhaus mehr, muss aber auch nicht sein, ich hab hier Platz und Sonne genug auf der Südterrasse und im Hof hab ich auch kein Laub mehr gekehrt, die Garagenbesitzer tuns nicht, die schieben das Laub vors benachbarte Garagentor. Währenddem nutzen die Garagenleute die Fläche gern zum Auswechseln der Winterreifen, leider auch für Motorengeräuschtests, eine Zeitlang war auch eine regelrechte Werkstatt dort im Gang, ich vermute Schwarzarbeit, und manche haben wie gesagt ein Moderrad für schöne Stunden. Auch der Mann mit dem Lieferwagen von F****y, den ich heute wieder sah, allerdings in eine Beschäftigung versunken, die dann doch peinlich für ihn war (auch wenn er mich nicht bemerkte).Tomatenhaus von 2010 Sagen wir mal so, ich kann mir die Bedrängnis in der Situation lebhaft vorstellen, würde der Not aber doch nur außer Sicht, in angemessener Entfernung vom bewohnten Gebiet nachgeben, also etwa auf dem unbebauten Grundstück ganz hier in der Nähe oder in Gottesnamen in einem nahegelegenen Park (3 Minuten), der sowieso für Vierbeiner als Freilauffläche gedacht ist, während die fauleren Hundehalter lieber unsere Vorgärten bepinkeln lassen, als dorthin zu laufen. Ich bin nicht ganz sicher, ob der Fahrer des Wagens auch der Chef des Vertriebs ist, die Ähnlichkeit ist frappierend, aber der F****y-Boss hunsauberer Gast auf dem Rückwegat vor kurzem in einer sächsischen Handelsstadt eine bedeutende politisch korrekte Auszeichnung entgegengenommen, weil er sich als Schutzengel für Kinder gebärdete. Klar, dass man in dieser Branche immer wieder an Kinder denkt, vor allem solche, die auf die schiefe Bahn gekommen oder kurz davor sind. Letztendlich hatte ich ja auch so einen jungen Mann von der Straße geholt, indem ich ihm meine Freispiele schenkte. Wie lange er in der Imbissbude blieb und ob seine letzten müden Kröten in den Apparat wanderten, nachdem mein Bonus aufgebraucht war, weiß ich nicht. Vielleicht hat er ja auch seine erste Million in Kupfermünzen nach Haus gebracht, heiratete Deborah, investierte in eine Automaten-Aufsteller-Kette und verdankt MIR all seinen Reichtum?! Egal, im Internet fand ich folgenden Bericht über den Empfänger des Schutzengelpreises: "der L**** des Monats Juli/August geht an den sozial engagierten Automatenunternehmer Urias Wartenkann (Name von der Redaktion geändert).  In X. unterstützt der engagierte Kaufmann einen Erlebnistag der Aktion Ein Schutzengel für Kinder. Kein Automatenklo in AmazonienKurzerhand wurden 32 Kinder, die aus problematischen Verhältnissen kommen und daher nicht bei den Eltern aufwachsen können, mit ihren Erziehern in die ***bar des Automatenkaufmanns und L***n-Club-Mitglieds eingeladen. Zuvor besuchten sie die Amazonien-Ausstellung im X.er Panometer. Urkunde und Preis wurden durch den L***n-Gebietsverkaufsleiter Franz Kunz (Name von der Redaktion geändert) übergeben." Tja, ich weiß nicht, ob die lieben Kleinen in der Automaten-Betreiber-Kneipe vor dem Daddelautomaten etwas zu trinken bekamen (alkoholfrei, hoffe ich doch), und wo sie es gelassen haben, ich kann nur sagen, wir haben im waldreichen Graffito am Poller RheinuferAmazonas von Raderthal (ehemaliger Rheinarm) Besucher, die sich hygienisch einwandfrei verhalten - ich sage nur: Eichhörnchen!, die Vögel lassen wir mal aus dem Spiel -, und nicht grade erwischen lassen, wie sie sich an einem Spiel(sand)kasten erleichtern,weil dieser saisonbedingt zur Zeit wenig frequentiert wird. Gerade als Aufsteller von Gastro-Automaten kommt man doch an die Orte, wo man jederzeit, geradezu mit Rückhalt des Gesetzgebers, Zutritt hat, um das zu tun, was der Mann hier im Hof abmacht ("Nichtgäste 50 Cent", das Schild sollte ich vielleicht aufstellen). Ich habe natürlich geschwankt, ob ich dem Besucher nicht ein "herzlich willkommen hier oben in der Wohnung" zurufen sollte, denn tatsächlich wär's mir lieber, und für ihn ja auch bequemer (die verdammten Reißverschlüsse an diesen Schutzengel-Kampfanzügen!), er würde das, was er da macht, bei mir im Sanitärbereich abmachen, am dafür vorgesehenen Becken, versteht sich, und nicht etwa in der Tomatenplantage, die wir in der Duschtasse angelegt haben. Jedenfalls soll ein antiker Römer gesagt haben, "pecunia non olet", er verdiente, glaube ich, sein Geld mit der Kloaken-Entsorgung in der lieblichen Hauptstadt Italiens. Ich aber werde, wenn ich noch einmal im Leben einen Cent in einen Spielautomaten stecken sollte, nicht mehr nur an Deborah und die leckere Pizza ihres italienischen Vaters denken, sondern an den F****y-Boss (oder -Mitarbeiter, aber vermutlich doch Boss), wie er neben dem Sandkasten steht und vehement am Reißverschluß zippt.


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