• Wie vorgestern angedeutet, bin ich ein eher gleichgültiger Besucher von Weihnachtsmärkten; kaum, dass ich mal eine Freundin auf einen Nachmittag durch die Buden begleite. Kölner Dom und Eingang zum MarktAußerdem dachte ich, in Köln ginge das Treiben der Händler im und vor dem Tempel so recht erst mit dem ersten Advent los - weit gefehlt, denn auch hier eröffneten letztes Wochenende die Geschäfte, über die Titanic lästerte: "Die Anleger stehen Schlange, um in verkohlte Bratwürste, versalzene Champignonpfannen und verranzte Batiktücher zu investieren. Dabei wird es ihnen nicht gerade leicht gemacht: An den Gebrannte-Mandeln-Buden gibt es so manche harte Nuß zu knacken, und wegen der überhitzten Konjunktur drohen mancherorts Investitionsstaus, besonders bei Crêpes und Gürtelschnallen mit Harley-Davidson-Logo. Gegen Abend geraten die Märkte dann überall ins Trudeln. Denn auch die Verbraucher legen ihre Konsumzurückhaltung ab und machen ihr Erspartes flüssig – erst an den Glühweinständen, anschließend dahinter." - Und nun sehe ich mich zum eigenen Erstaunen schon zum zweiten Mal in diesem Jahr auf einem Weihnachtsmarkt schlendern, in Begleitung meiner Liebsten, die wenig Lust auf Glühwein, aber Appetit auf eine Frittatensuppe verspürte. Kurz zuvor waren wir im Museum Ludwig gewesen, bei einer Führung durch die Ausstellung "Ich und ich und ich". Sie zeigt Fotografien von Picasso (nicht solche, die er geknipst hat - falls er je fotografiert hat, wurde das verschwiegen -, sondern mit ihm als Motiv), und standen noch ganz unter dem betäubenden Eindruck kubistischer Farben und Formen der Picasso-Abteilung, Sternenzelt am Weihnachtsmarktdurch die wir in der letzten Viertelstunde vor Schließung des Museums noch eilen mussten. Komischerweise kann ich nach Picasso keinen Dalì mehr sehen, obwohl er unzweifelhaft ein Genie ist, aber nach Picassos leicht-luftig-spielerisch hingeworfenen Konturen und Gesichtern und Stilleben etc. wirkt die handwerkliche Meisterschaft, ja Exzellenz Dalìs irgendwie kleinlich. Seine Bilder, die ich ohne vorherige Picasso-Sichtung atemberaubend großartig finde, bedrücken den Betrachter durch ideologischen Krampf. Übrigens sind die Fotos, die Picasso zeigen, fast ausschließlich Stand der Anonymen Alkoholiker am Weihnachtsmarktschwarz-weiß und gelegentlich auch ziemlich verkrampft, z. B. waren die Porträts von Man Ray ein durchsichtiger Versuch, aus dem katalonischen Zeichenlehrerssohn den avantgardistischen Heros schlechthin zu stilisieren. Rays Bearbeitungen von Originalfotos sind zu sehen, bei denen der Aschenbecher (den der kettenrauchende Picasso andauernd benötigte) herausgefiltert wurde, und die mit Licht konturierten Seitenprofile des Meisters hätten jeder NS-Illustrierten als Titelbild Ehre gemacht. Wie Bertolt Brecht putzte sich Picasso für jedes Foto eigens heraus, machte Faxen und Grimassen, von beiden gibt es kaum Bilder, auf denen sie "gewöhnlich" oder auch nur wie ganz normale Zeitgenossen aussehen. Bei Picasso sind es übrigens die wenigen Farbbilder aus dem Alter, da wirkten selbst die magischen Maleraugen nicht so schwarzglänzend, die ganze Figur sah ein bißchen aus wie ein (beleibterer) Werner Finckh! Schaute er in die Kamera, war das fast immer eine Session zur Selbstinszenierung. Er liebte die Hüte, die ihm seine Besucher mitbrachten, zB. Gary Coopers Cowboyhut. - Nun wollten wir noch den Film Testament des Orpheus sehen, von Jean Cocteau (der Picasso schon in den zehner-zwanziger Jahren des 20. Jhds. fotografiert hatte), aber der lief erst 19.00 an und uns blieb eine Stunde zum Flanieren. Und da war ich denn doch beeindruckt von dem sternenglänzenden Himmel, der vor dem Museum das Weihnachtsmarktgeschehen und den gesamten Roncalliplatz überwölbt. In Wahrheit ist das Lichterzelt der Petticoat des aus zahlreichen Einzelbäumen getürmten Riesen-Tannenbaums, der in der Mitte steht. In der Mitte eine Bühne, auf der sanfter und gar nicht unebener Jazz geswungen wurde. Ein mächtiger Arc de Triomphe aus LED-Kerzchen am Eingang, verstellt von Rädern, die ja auch irgendwo geparkt werden müssen. Selbst die Buden todschick gestylt, edles Mahagoni, möchte man meinen, und erst das Angebot, da scheint man wohl den gröbsten Kitsch durch gnadenlose AuswahBühne mit Jazzband auf dem Weihnachtsmarktl rausgehalten zu haben. Kunstwerk vor dem Museum LudwigOffenbar hat sich herumgesprochen, dass die vielen Holländer und Engländer, die Köln zum Einkaufsbummel besuchen, doch etwas anspruchsvollere Kunden sind als man früher dachte. Natürlich bot man das übliche Sortiment an: Karten, Kerzen, Kugeln, Mobilés, kunstgepunzte Türschilder mit Namensgravur (bis 20 Buchstaben kostenfrei, würde für unsere beiden Vor- und Nachnamen nie reichen), Nußknacker, Holzfigürchen, Vogelstimmenflöten, Trüffelpralinen, Briefbeschwerer, Tischflammenwerfer als Kaminersatz und jede Menge anderen Plunder, aber alles einigermaßen gute Qualität, wie es schien; selbst das gastronomische Angebot war interessant: Fried Fish (englisch beschildert) wurde aus zertifiziert überfischungs-geschützten Gewässern mit "organic remoulade sauce" angeboten, "in an organic role", aber viel los war nicht an dieser Bio-Theke. Mehr Leute entschieden sich für eine standby-Fondue, die in kleinen Plastikschüsseln im Körbchen serviert wurde. Und am Österreicher-Bergwelt-Stand, wo die Köche und Serviermänner alle komische Wildererhüte trugen (die Frauen waren davon entpflichtet, wie es schien), verzehrte ich einen Germknödel und meine Liebste ihre Suppe. Lustig und eigentlich traurig (wir einigten uns dann auf: "zielgruppengerecht") war der "Aktionspavillon", den sich die Anonymen Alkoholiker neben dem umlagerten Glühweinstand gesichert hatten. Es gab allerdings an manchen Buden alk-freien Autofahrerpunsch, den christmas market addicted teachers beim Klassenausflug den StudierendenPicasso von vorn spendieren könnten. Wir spazierten nach dem Knödel- bzw. Suppenverzehr noch über die Plattform hinter dem Römisch-GePicasso seitlichrmanischen Museum, wo sich schon wieder ein temporäres Kunstwerk breit macht, diesmal ein weißlackierter Pinocchio auf einem hohen Stuhl unter einer periodisch aus- und angehenden weißen Laterne, und was sehe ich, an die Laterne wurde eine Leuchtreklame-Zigarette montiert. Überall ist die Nikotinwerbung verboten, nur nicht in der modernen Kunst und in der französischen Cinéasten-Filmszene. (Auch im "Casablanca", wo ich neulich aufspielen durfte, ist leider noch bis 31. Dezember das Rauchen erlaubt, dann endet die NRW-Toleranz gegenüber fingierten "Raucherclubs".) Denn es war auch bald Zeit, in die ehemalige Cinemathek zu gehen bzw. deren Ausweichquartier, das nach dem frühen Ableben des Leiters der Cinemathek schwuppdiwupp zum Museum Ludwig eingemeindet wurde und heute nur noch künstlerisch hochwertige Filmkunst zu teuren Eintrittspreisen zeigt. Szene aus dem Testament des OrpheusUnd da begegnete uns nicht nur ein sichtlich gealterter, aber immer noch von schönen Jünglingen umgebener (hier: Edouard Dermit) Cocteau, natürlich schwarz-weiß, und dieser, na, wie heißt er noch, der ältere Herr da auf dem Bild, den dritten von links meine ich, der kahlköpfige Renter mit Schwiegersohn und Enkeltochter hinter der lametta-behangenen Absperrung der Weihnachtsmarkt-Arena von Kölle, es will mir nicht einfallen, wem sieht er denn ähnlich, ach ja, hier schaut er einen von vorn an: Paul Ruíz! Andere gute alte Bekannte, die auf der Leinwand erschienen, waren z. B. Yul Brunner, Charles Aznavour, Maria Casarès (bekannt als dunkelhaarige Rivalin der Garence in Kinder des Olymp), Jean Marais (vom Orpheus zum Ödipus gewandelt) und der damals noch im Flegelalter befindliche Jean-Pierre Léaud. Der Film endete dann, indem die Blume, um die es in dem Dialog links im Bild ging, sich rot färbte wie das Blut des von Pallas Athene mit dem Speer rücklings aufgespießten Poeten. Und im Vorspann und Abspann die Lieblingsdroge der Surrealisten, natürlich auch während des Films von Cocteau in 19.-Jhd.-Kluft, von der Casarès weidlich genossen - Zigarettenrauch, in nikotingrauen Schwaden, geisterhaft wolkig aufblühend und ewig wandelbare Figuren bildend, die Picasso mit Licht, Cocteau mit Tafelkreide skizziert haben könnten.


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  • Vor einiger Zeit hatte ich an dieser Stelle, beim Reisspeicher im Kölner Völkerkundemuseum schwörend, prophezeit, eines Tages würden indonesische Studenten der Ethnologie kommen, um unser deutsches Stammesverhalten unter die Lupe zu nehmen. Porte de ParisOffensichtlich ist meine Vorhersage eingetroffen, denn in sog. Tandemprojekten bekommen neuerdings jungen Forscherinnen und Forscher aus ehemaligen Kolonialländern eine Chance, uns die Traurigen Tropen von Claude Lévy-Strauss und Margaret Meads Samoa-Report ("Was würden Sie denn sagen, wenn Ihnen ein Fremder ins Haus schneit und Sie über das Sexualleben Ihrer Kinder ausfragt?") heimzuzahlen.Karussellfigur - Am letzten Wochenende war ich im Ausland, und auch wenn mir die Zeit für eine großangelegte Feldforschung fehlte, will ich doch einige Impressionen aus der Stadt Lille im Norden des erbfeindlichen Frankreich wiedergeben. Erhaben gestimmt, durchschritt ich das imponierende Pariser Tor, das offenbar zu einer Vaubanschen Stadtbefestigung gehörte - statt des Wassergrabens mit Krokodilen oder Piranhas drin findet sich heute ein grünes Zierbeet unterhalb der Pfeiler. An einem offenbar historischen Gebäude Freiheitscafe in Indoch'tinafiel mir das Freimaurerzeichen auf, das über der Tür eingemeißelt stand. Unterhalb des Reiterstandbilds von General Faidherbe finden sich zwei Figuren, eine versinnbildlicht die Stadt Lille, und neben ihr sitzt Clio oder irgendeine andere Geschichtsmuse, der diktiert wird, was mit ehernem Griffel von den Großtaten des Militärs in ihr Buch eingetragen werden soll. Diese schreibende Dame hat man wie zum Hohn mit einer gelben Bierdose gekröntRentier am Karrussell - kein Wunder, dass die Geschichtsmuse den Mächtigen dieser Welt nicht treu bleibt, sondern, sobald sie "nach Diktat verreist" sind, alle ihre Untaten mit ebenso peinlicher Vollständigkeit aufzeichnet. Wer weiß, vielleicht kommt der Trittin mit seiner Einführung des Dosenpfandes im deutschen Nachbarland vor ihrem Richterstuhl gar nicht so schlecht weg... Dann gefiel mir ein (noch geschlossenes) Café am Boulevard de la Liberté, dessen Name die Freiheit der Ch'tis beschwor. Ch'tis nennen sich die Eingeborenen hier selbst (niemand konnte mir bisher erklären, was das Wort eigentlich bedeutet), und es gibt allerlei Humoriges - Aufkleber, Magnethalter, etc. - im Touristeninformationsbüro zu kaufen, das darauf Bezug nimmt (und im Buchladen den Film Bienvenue chez les Ch'tis und seinen Nachfolger, Rien à déclarer jetzt bereits als Comic Strip). Aber ich war die ganze Reise über mit so brillant Hochfranzösisch sprechenden Menschen zusammen, dass ich nichts von dem heftigen Dialekt der Gegend mitgekriegt habe. Erst auf der Rückfahrt begegnete mir ein echter "Ch'ti". Er war nach Berlin unterwegs und ich nahm ihn - Denkmal Faidherbe in Lilleeingedenk eigener Tramper-Erfahrungen, an die ich aus gegebenem Anlass erinnert wurde - von der Raststätte vor Liège mit bis zur Raststätte hinter Aachen. Ein junger Mann von der französisch-belgischen Grenze, Franzose, mit einem unsäglichen Akzent, ohne zwei- bis dreimal Nachfragen verstand ich kein Wort von dem, was er sagte. Er hatte übrigens behauptet, fünf Sprachen zu sprechen: Französisch, Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Italienisch (die letzten vier habe er sich "im Internet" beigebracht!), nur mit dem Deutschen hapere es, weshalb er eine Weile in Berlin bleiben wolle. Ich hab ihn nicht auf Italienisch, Portugiesisch etc. getestet, aber beim Französischen muss er wohl nochmal nachfassen. Und nun zu den Sitten und Gebräuchen, soweit ich sie in den zweieinhalb Stunden meines Aufenthalts in Lille beobachten konnte: Erstens fiel mir auf, dass entgegen anderslautenden Meldungen der Beffroi de LilleAltbau in LilleWeihnachtsmarkt längst eröffnet ist (während hierzulande der Budenzauber erst vorbereitet wird). Ich werde demnächst mal eine dieser Postkarten mit Motiv: Apfelbaum nach Nordfrankreich schicken, auf denen steht "Advent ist erst im Dezember". - Zweitens gab es darüber hinaus eine offenbar innenstadtweite Kirmes. Nicht nur das Riesenrad, das Karrussell etc. etc. hatten barocken Anstrich, im Licht des Spätherbstes stand auch das Sonnenhaus; die ganze Altstadt mit ihren Häusern hatte sich festlich in Pastellfarben und Rokoko-Verputz eingekleidet - offenbar will man diesmal beim ordnenden Festkommitee den Titel "begehbarer Adventskalender 2011" abräumen. - Und drittens fiel mir (mal wieder) ins Auge, welch köstliche, augenschmeichelnde Patisserien in den Auslagen der Schaufenster zu bemerken sind, allein vom Ansehen wiegt man gefühlte anderthalb Schokoladenkilo schwerer. Ich weiß schon, weshalb ich kein Riesenrad besteige! Wobei ich allerdings auch den Beffroi nicht besichtigt habe,Turm und Zinnen der morgens noch in geheimnisvollem Nebel glänzte und später in der wunderschönen Sonne eines fast sommerlich anmutenden Novembertags über dem Riesenrad emporragte. Tja, der Ruhm der Stadt Köln reicht zwar bis hierhin - ein Schüler, dem ich meine Herkunft verraten musste, rief sofort begeistert "Schokoladenmuseum" aus (und nicht etwa "4711", oder "Alaaf", geschweige denn "Kölner Dom"). Aber in Köln zehrt man eben von den place Charles de Gaulle in Lillemusealen neiges d'antan, während die hohe Gegenwartskunst der Weihnachts-Feinbäckerei eindeutig in Frankreich ausgeübt wird. Und zwar ganzjährig! -Riesenrad in Lille Auf das Riesenrad, das von unten gesehen eine reine Freude ist, hab ich mich dann doch nicht getraut, es geht mir damit wie mit den Montgolfièren, die ich entzückt betrachte, ob auf alten Stichen an der Wand oder schwebend in den Lüften, mit diesen hübschen goldenen Ornamenten auf Himmelblau: Schönheit des Fortschritts! Aber: Einsteigen möchte ich lieber nicht. - Und auch vor den Patisseriegeschäften blieb es beim Nasenplattdrücken an der Schaufensterscheibe, reingegangen bin ich nicht. Wie eine heitere Passantin sehr treffend bemerkte, belässt man's mit Rücksicht auf die schlanke Linie besser dabei, die Schönheiten zu fotografieren, anstatt sie sich einzuverleibenKonditorei in Lille.Haus am Place Charles de Gaulle in Lille Als ich, es muss um Ostern 1989 gewesen sein, mal auf der Durchreise ins Elsass kam, hatte ich leider keinen Fotoapparat, sonst hätte ich die vielen Pracht-Ostereier in den Patisserien dokumentiert, die mit zuckerfarbenen Dekolorentrikots, pardon, Trikolorendekors, Kuchen und PlätzchenKirmes in Lilleputjakobinerbemützten Osterhasen, baumkuchenähnlichen Obelisken und Miniatur-Guillotinen auf die Jahrhundertfeier der Republikwerdung anspielten. Das glaubt einem hierzulande kein Mensch, und der Konditor, der es wagen würde, den 18. März, den 3. Oktober oder die Unterzeichnung des Grundgesetzes mit schwarz-rot-goldenen Torten zu feiern, dem würde die radikale Antifa aus Berlin wohl die Fenster einschmeißen. Aber vielleicht auch nur, um die Leckerlis umsonst aus den Scherben zu bergen.


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