• Zwar war ich in diesem Jahr mal wieder nicht auf der Buchmesse, mein letztes übersetztes Buch liegt ja auch über fünf Jahre zurück, aber zum bescheidenen Ersatz bin ich am Sonntag mit meiner persönlichen Art-Directorin ins Rechtsrheinische auf die Buchbindermesse gefahren. Im letzten Jahr war sie wegen des Umzugs leider nicht hingekommen. Daß es paper addicts gibt, weiß ich von mir selber, aber so einen Trubel rund ums Material, aus dem die Träume sind, hab ich mich nicht vorstellen können!Gremberger Bahndamm Es fing damit an, dass man in dieser (verhältnismäßig öden) Gegend, in die ein Alexander-von-Humboldt-begeisterter Industrieller eine Arbeitersiedlung setzte (im Geist der Humanität und Volksbildung, natürlich nach Feierabend und ohne vollen Lohnausgleich) und nach dem Namen seines Lieblingsschriftstellers benannt hat, nicht mal einen Parkplatz bekam. Köln gemeindete diese Gegend 1888 ein und ist damit die einzige mir bekannte Stadt mit einem Viertel namens Humboldt (Städte, die so heißen, gibt's in Südamerika, USA und Australien genug, und "zahlreiche Gewerkschaften...erhielten Benennungen nach Humboldt", heißt es in dem Werk "Werk und Weltgeltung", aber damit sind bergrechtliche Kapitalgesellschaften gemeint). Da aber die Fabrik unter dem alten Namen (Klöckner Humboldt Deutz) Papiermesse in Kölnein Milliardengrab geworden ist und inzwischen nur noch Deutz AG heißt, nennt man das Viertel heute Humboldt-Gremberg. Uns fielen jedenfalls am Bahndamm der Lüderichstraße (Lüderich = Bergbaugebiet im Bergischen) die merkwürdigen Kacheln mit Adlern und kölner Wappen auf, Messehalle für Buchbinderoffensichtlich aus Keramik und irgendwann restauriert, aber ihr Geheimnis habe ich noch nicht lüften können, Google weiß auch nicht alles!
    Alles, was über Buchbinderei, Papier, Linnen und Leder Bescheid weiß, hatte sich aber in der winzigen Grundschule versammelt, in der man schon 2,50 Eintritt zahlen musste, um auch nur die heiligen Hallen betreten zu dürfen. Einen Sitzplatz in der Caféteria konnte man damit nicht erkaufen, die war knüppelvoll und blieb es, und die Schulkorridore und Klassenräume wimmelten vor Bücherwürmern. MelkpakboekjeDie Schöpfung aus PapierJeder durfte mal versuchenDiese Buchbinder-Messe ist merkwürdigerweise eine Erfindung der Niederländer und findet jährlich, aber nicht bei denen (klar, die wollen ihr Zeug anderswohin verscherbeln), sondern in Sint Niklaas (Belgien) und eben in Keulen statt. Kaum hatten wir die Kasse passiert, da kriegte meine Begleiterin auch schon so ein merkwürdiges Funkeln in den Augen (wie die Fensterscheiben brennender Irrenhäuser, hätte Arno Schmidt gesagt), und nun wurden Ballen & Auslegeware angefasst und umgelegt und Farbe, Riffelung, Laufrichtung und Einschlüsse begutachtet. Wasserzeichen selber setzenAngeblich hat man in China schon um 1000 v. Chr. Papyrusblätter zu einem Fasergeflecht verarbeitet, 60 v. Chr. gab es dort bereits Papier, und erst 800 Jahre später verrieten chinesische Gefangene das Geheimnis der Herstellung den Arabern. Bis dahin schrieb man jedenfalls im Mittelalter noch auf Kalbeshaut (die gab es hier auch, im ersten Stock). Wie alle Kölner erstmal nur auf Schnäppchen aus, hatten wir Glück: Schon im ersten Stockwerk verscherbelte einer "Restpapier" für 1,- € den Bogen, genau das erwünschte, "rough" und knitterig, mit unordentlichen Einschlüssen und Maserungen. Sonst konnte man hier gut und gerne fünf bis zehn Euro für gute anderthalb Quadratmeter Feinstpapier von köstlichster Glätte - bzw., für Erotomanen, mehr oder minder sanft gerillt, gerauht oder genoppt - ausgeben. Umweltpapier gab es auch, aber nur ganz vereinzelt in einer Ecke, denn die Fabrikation von farbigem oder auch weißem Papier, den Ökos sei's gestanden, ist eine wenig umweltfreundliche Angelegenheit, hat viel mit Chemie und Sauerei zu tun, weil man den Grundstoff (Lumpen, Altpapier) erstmal auflösen und zerstören muss.Anbietung: Kuhmagen! An den Marmorierungen konnte man sich allerdings kaum sattsehen! Die mit dem teuersten Papier, wo wir gern ein Blatt erstanden hätten, war hinterher nicht da, ihr Vertreter wußte nicht Bescheid und der Bogen, den wir wollten, war nur halb so groß, weshalb wir auch nur die Hälfte blechen wollten - da es nicht aufzuklären war, haEnzyklopädisten-Lederben wir Verzicht getan, selber schuld. Wir kauften 2 hübsche Blätter bei Franzosen aus Burgund. Natürlich wurde auch Papier hergestellt (eine ziemlich nasse Angelegenheit). Dass es anderersRochenhäute auf der Buchbindermesseeits Recycling von Müll und insofern doch nicht ohne Öko-Aspekte ist, sah man am nächsten Stand: Ein Asiate bot nicht nur Notizbüchlein & Portemonnaies aus gebrauchten Milchtüten an, der machte auch Papier aus allerlei Müllkram, sehr pittoresk anzuschauen. Erst wusch er die Milchkartons mit Seifenlauge und rubbelte dran, bis das Plastik abging. Dann kam der Papieranteil der Tüten in einen ordinären Mixer, um "Pulpe" zu erzeugen. Die wurde auf so eine Box mit Gitterfenster gelegt (er verkaufte die Kästen nebst Anleitung), nach einer Weile durchgeseiht und "gegautscht", d. h. was oben blieb, auf billigen Spültüchern getrocknet, er legte das Ergebnis dann auch noch in die Mikrowelle (die Holländerin, die dasselbe im Erdgeschoss unter Hinzufügung von Wasserzeichen unternahm, hatte eine Bügel-Plättpresse), um es zur Mitnehmreife zu trocknen. Natürlich wurde auch anderer Stadien der Buchherstellung gedacht - nur das Schreiben war etwas unterrepräsentiertMeßbuchbeschläge mit einem einzigen Kalligraphie-Stand - , beispielsweise gab es einen Experten für Beschläge, wie man sie von alten Meßbüchern kennt (er machte auch Familienwappen und Stammbäume). Es ist wirklich ein besonderer Menschenschlag, der sich hierher verirrt. Es scheint vor allem ein Frauen-Hobby zu sein (obwohl auch der eine oder andere bejahrte Papiermann oder Buchbinder hinter seiner Presse stand und aufpasste, den Graubart nicht einzuklemmen). Ich hörte junge Punkerinnen begeistert über Holzgehalt dieses oder jenes Bogens, über Flexibilität und Leimstärken reden. Bei einem Stand redete ich selbst drauflos und erklärte dem Pfälzer, der da "Beutelbücher" feilbot (wie sie auf mittelalterlichen Altarbildern die Pilger häufig tragen) die Sache mit den Bücherflüchen, dass man früher den "Kettenbüchern" in den Klosterbibliotheken auch gern mal eine Verwünschung einschrieb desjenigen BöseTierhautwichts, der das Buch trotz aller Verbote klaut, statt vor Ort zu lesen. Allerdings ist derjenige mehr zu fürchten, der brav bezahlt, aber das Geld auf verbrecherische Weise erwirbt - cave Magister Tinius! Alles lauschte aufmerksam, ich hatte sofort ein Publikum.
    Die Abteilung "Leder" war so recht etwas für Bucherotomanen, und ich freute mich, daß es nach Diderot benanntes Maroquain und Ziegenleder nach Art von d'Alembert gibt: peau de chagrin des encyclopédistes, das hätte mancher Kleriker des 18. Jahrhunderts gern mal angefasst! Schließlich gab es noch einen Stand, der eine "Anbietung" (nee, nicht "Anbetung der Hirten") vom Kuhmagen und  abgezogenes "Leder" vom Rochen feilbot. BuntbindfädenLetzteres eigne sich nicht so gut zum Buchbinden, belehrte mich eine junge Dame, weil die winzigen irisierenden Schuppen abplatzen, aber ihre Freundin, Goldschmiedin aus Düsseldorf, versicherte, man fertige der treue Hund des Lesebändchenflechtersbrauchbare Armbänder aus diesem Material. Ein paar Stände weiter saß übrigens ein Hund ganz brav unter dem Tisch eines Mannes, der Seidenbänder verkaufte (vielleicht sollen das Lesebändchen werden?), wie mancher Branchenkollege wird schon begehrliche Blicke auf das wirklich schöne Fell des Tiers - im Bild leider etwas verwackelt - geworfen haben. Nach ein, zBuchbindermesse, Workshopangebotwei Stunden verließen wir die Messe mit rollenweise Rohstoff unterm Arm, für Scherenschnitte, versteht sich. Ich habe mir aber auch für 3 € marmorierte Restpapierchen gekauft, die bei entsprechend großem Format für Bucheinbände alter Art geeignet gewesen wären, durch deren tintiges Gewölke ich bisweilen ins Lampenlicht schaue, und die gepünktelten sehen sommersprossig am ganzen Leibe aus, wie Schleien! Vielleicht kann man mal einen Brief auf die Rückseiten schreiben, oder das berühmte Gedicht von Gerhart Hauptmann in Schönschrift: "Ich bin Papier - du bist Papier. Papier - ist zwischen dir und mir. Papier - der Himmel über dir. Die Erde unter dir - Papier. Willst du zu mir und ich zu dir: Hoch ist die Mauer aus Papier! Doch endlich bist du dann bei mir, drückst dein Papier an mein Papier, so ruhen Herz an Herzen wir! Denn auch die Liebe ist Papier, und unser Haß ist auch Papier. Und zweimal zwei ist nicht mehr vier: Ich schwöre dir, es ist Papier!"


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  • Jetzt mußte ich mir doch mal eine Auszeit nehmen, um die brandneue Geburtstagskamera auszuprobieren. Eine "Nikon", deren Transferprogramm schon nicht mehr in den Macintosh paßt, den ich doch erst seit ca. 2 Jahren benutze, dafür brauch ich schon wieder einen neuen Computer... SchuhverkaufAber das ließ sich noch anderswie realisieren, und ich kann nun also die ersten Ergebnisse zeigen. Gestern hatte ich eigentlich ganz andere Probleme, ein wichtiges Arbeitsmittel ging kaputt und ich hätte mich um einen willigen Reparaturmenschen kümmern müssen - aber dann fiel mir ein, daß im Kölner Gürzenich mal wieder Schuhbörse ist, da kosten alle Schuhe so rund 5, 15, 25 oder 50 EUR, herabgesetzt von den fünfzig, hundert etc., die sie sonst kosten. Da ist jedesmal die Hölle los - es muß das Paradies sein für Diktatorenwitwen und Präsidentinnen. Daher fuhr ich mit der besten Ehefrau von allen zum Heumarkt, um mitzumischen, und siehe, ich hab auch ein schönes Paar gefunden, meine Liebste, die gar nicht gucken wollte in der Damenabteilung sogar 2 Paar, eins davon knatschorange in Leuchtfarben für sage und schreibe 5 EUR, meine haben immerhin 29,99 gekostet. Die Kartons kann man praktischerweise gleich dalassen und bekommt Plastiktüten für den Transport. Galerie am Heumarkt"Frauen beim Schuhkaufen sind Ichmenschen", behauptete der Mann an der Kasse (immerhin hat er mehr Erfahrung, da er die zwei Tage hier an der Kasse steht und wahrscheinlich bei ähnlichen Ramschverkäufen auch in anderen Städten). Er wollte damit erklären, warum im Handumdrehn ein solches Chaos entsteht, besonders in der Frauenabteilung, aber bei den Männern flogen auch viele Einzelschuhe in unterschiedlichsten Größen herum. Wir fuhren mit dem Bus wieder heim, wobei ich immer lachen muß, weil gegenüber der Bushaltestelle Heumarkt (die letzte vor Dom-Hauptbahnhof) die Galerie Zeugma liegt. An Stelle des Galeriebesitzers hätte ich mir ein anderes Ladenlokal gesucht, weit weg von irgendwelchen Gleisen, draußen an der Autostrada - oder einen anderen Namen. Demostrant in RaderbergDarauf läuft Böll-Architektur hinausDenn was macht der wütende Germanist, der den Bus verpaßt hat und hier sogleich einenen schönen Anlass für ein Zeugma erkennt? "Er schlägt die Scheibe und den Weg zum Bahnhof ein!" Wenn's hier also mal Glasbruch gibt... selbst schuld! - Schließlich haben wir uns für das Projekt "gebackene Leber" noch entsprechende Zutaten holen wollen und kamen nach Raderberg, wo der Einzeldemonstrant wie fast jeden Tag mal wieder vor der Kirche demonstrierte. Er führt einen Rucksack mit, dem er das Plakat mit der Parole entnimmt, und zieht sich jedesmal weiße Einweg-Handschuhe über, die aus irgendeiner Klinik oder Lebensmittelfabrik stammen könnten. Nun muß man wissen, dass es nicht grade Lauflage ist, die Brühler Straße in Raderberg, und in der Metzgerei, die hier dem LIDL Konkurrenz macht - außer dem Bäckereicafé sind das die einzigen Geschäfte weit und breit -  gibt es nicht mal Leber. Da kann man keine Massen zum Kochen bringen und kaum jemanden agitieren, höchstens vielleicht den Besoffsky mit Bart und Halbglatze, erstaunlich sauber gekleidet, den man schon früh um halb acht und dann immer wieder mit Bierpulle in der Hand schwergängig herumspazieren sieht, und der im LIDL gleich ein ganz bestimmtes Regal ansteuert. Tomate im HerbstlichtDer fährt auch - wie ich - schon mal mit als Buslinien-Hopper von Mansfeld nach Zollstock oder vom Gürtel nach Sülz; außer mir der dritte Sonderling hier in der Gegend (obwohl wir den Eindruck haben, die Sonderlingsdichte nimmt zum Severinstor eher zu). Manchmal bleiben Leute stehen und erkundigen sich, wogegen sich sein Demonstrieren richtet. AufReibekuchen mit Apfelmus dem Schild des Demonstranten steht übrigens der Satz: "Die totale Überwachung der Kommunikation einer Person durch Sekten verstößt gegen das deutsche Grundgesetz." Dem könnte man an sich rundheraus zustimmen, aber was bedeutet es? Könnte es mt der Kirche zu tun haben, vor der er steht, und deren Zwiebelturm von Alfred Böll, einem Onkel des Nobelpreisträgers im Stil der neuen Sachlichkeit errichtet wurde, oder mit dem Kindergarten daneben oder dem nahegelegenen Benediktinerkloster, dessen Nonnen Hühner und eine echte Kuh im Garten halten? (Die Nonnen kann man um 6 Uhr früh singen hören, die Laudes usw. sind für die Öffentlichkeit zugänglich, aber in der Woche sind wir um 6.00 beim Frühstück und an Feiertagen zu faul.) - Ich selber hab  zwar noch keinen Büffel im Hof, der mir das nötige Mozzarella zu Basilikum und noch immer üppig florierender Tomatenfauna liefern könnte. Aber weh mir, wo nehm ich, jetzt wo es Winter wird, die Farbe für die Tomaten her? Der Schatten der Erde fällt über sie und sie scheinen grün zu bleiben, selbst die ananas-Tomate auf der Terrasse, so dick und gesund sie aussieht, zeigt noch keine Spur von Erröten... Zuhause stellten wir dann fest, dass wir keine Diktatorenwitwen sind und durchaus ein paar recht ausgelatschte Exemplare in den Müll tun können, um Platz für das neue Schuhwerk zu schaffen. Die Leber kriegten wir dann noch in Zollstock - aber eigentlich war das ganze Projekt Leber nur ein Verzehrvorwand für das viele Apfelmus, das wir neulich selber gemacht haben zum Reibekuchen, und nun verbrauchen müssen (ich koch es gleich nochmal ein und stell die Gläser bei 100° ins Wasserbad im Ofen, dann hält sich das länger). Der Reibekuchentag war mein eigentliches Geburtstagsessen, denn da hab ich die Kamera zum ersten Mal ausprobiert. Sie hat übrigens eine Gesichtstausch-Automatik, man klickt einfach auf "Google-Bildersuche" und automatisch wird das Portrait eines Menschen eingesetzt, mit dem man sich schon immer mal bei einem Glas Wein und Reibekuchen unterhalten wollte. - Nachtrag; die XXL-Tomate habe ich inzwischen in die Duschkabine im Bad gesetzt, wo sie Anstalten macht, nach jahrelangem Behängen des in Hürth infolge Winterfrost und Zugluft eingegangenen "ficus Benjamini" der nächste Weihnachtsbaum zu werden.


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  • Ach ja, ich hatte noch die Auflösung des Rätsels versprochen: auf der Zeichnung ist mein Großvater zu sehen, den der britische Ex-Premier Winston Spencer C. karikiert hat - acht Jahre, bevor ihm (Winston) der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Für Malerei gibt es noch keinen Nobelpreis und, nun ja, ihm den Friedensnobelpreis zu verleihen, das erschien wohl selbst dem Nobelkomitee vielleicht doch einen Tick zu zynisch, immerhin hat Alfred Nobel das Pulver erfunden, Churchill das damit zu verübende Flächenbombardement (die "Effizienz" ist zuvor auf einem Versuchsgelände mit in Kellerräumen angebundenen Ziegen getestet worden). Der Dynamitbaron wollte sich durch die Förderung des Friedensgedankens in der Welt quasi entschuldigen. Versuch, La Ruche zu fotografierenHingegen Churchill, der fand sein "immer feste druff" wohl bis in sein letztes Sterbensstündchen noch richtig und gut so. Dass er Hitler und die entfesselten Deutschen besiegt hat, das dankte ihm die Völkergemeinschaft, nicht der britische Wähler, der ihn abservierte, kaum dass die MGs kalt geworden waren. Und dass er meinen Großvater zeichnete, dankte dieser ihm durch ein Gegenporträt, an der Staffelei sitzend, im Baskenland, an der französischen Atlantikküste. Diese Zeichnung ist mir übrigens gestern zugegangen, allerdings nur als Ausdruck von Mikrofilm, mit Archivstempel, auf gelbes Papier. Der Mikrofilm lag in Cambridge. Wo das Original ist - in einer Kladde mit Fotos aus dem Urlaub, den Churchill unmittelbar nach seiner Nichtwiederwahl antrat (später wurde er kurzzeitig nochmal gewählt) - , das ist nun die Frage. Und wie es mein Großvater geschafft hat, sich unmittelbar nach Kriegsende aus Holland, wohin er (als seine Heimatstadt und mit ihr drei Ateliers in Trümmern lagen) evakuiert war, über Denkmal für Otto Freundlichdie grüne Grenze nach Hendaye zu verdrücken, wo er beim Pleinairmalen auf den Politiker traf, das wird vermutlich ein Geheimnis bleiben. Spanien war seine zweite Heimat - Frankreich sowieso -, hatte er doch 1911 und 1913 als einziger Deutscher im Pariser Salon ausgestellt und in La Ruche gewohnt, einer Art Containerdorf, das der Bildhauer Alfred Boucher 1902 aus dem stählernen Sperrmüll gewesener Weltausstellungen errichtet hatte. Boucher vermietete sie billig an arme Künstler, beispielsweise wohnten hier Chagall, Léger, Zadkine und Robert Delaunay, ein Maler, der meinen Großvater sehr beeinflusst hat. Verheiratet war Delaunay seit 1910 mit Sonja Stern, die von 1903 bis 1905 in Karlsruhe studiert hatte. In Spanien lernte sie übrigens 1914 den Tänzer Diaghilev kennen, für den sie Kostüme entwarf. Sie starb erst 1979 in Paris, und wäre ich damals nicht so unwissend gewesen, ich hätte sie gut noch mal nach meinem Großvater fragen können, der mit dem Ehepaar Delaunay und anderen Drückebergern von Quatorze-dix-huit in Barcelona und Madrid weilte und sich dem Gestellungsbefehl widersetzte. Angeblich stieg er in den Zug, wie das Konsulat es befahl, und stieg auf der anderen Seite wieder aus (damals hatten die Züge beidseitig Türen). Und der Typ, der den Ersten weit vom Schuss in Spanien verbummelte, trifft also nach dem Zweiten Weltkrieg, das ein noch viel größeres Völkerschlachten mit sich gebracht hatte, den Burenschlächter, Bombenkrieger, Panzerwagen-Erfinder usw., einen Hobbymaler, dessen Kriegskunst dem Profi-Kollegen das Lebenswerk gekostet hat, und da unterhalten sich die beiden älteren Herren vor ihren Staffeleien locker pfeife- bzw. zigarrerauchend an der Atlantikküste über Zeichenkohle, Farbkontraste und Pinselqualitäten, und schwupps, vereinbaren sie, dass einer den anderen auf den Zeichenblock abkonterfeit...? Wenn das keine Story ist, weiß ich es nicht. Jerusalem der KünstlerAber zurück nach Paris und ins La Ruche, das vergessene und von Touristen meist übersehene Künstlerviertel unweit vom Espace Georges Brassens, einem Park, wo allsonntäglich Bücherflohmarkt stattfindet. - Berühmt ist allenfalls die Rotunde von Gustave Eiffel, aber die drumherum errichteten Schlichtbauten, die heute dem Verfall entgegenrosten (obwohl der Abriss vor einigen Jahren verhindert wurde, heute kümmert sich eine Stiftung um dieses Gelände, das allerdings trotzdem stark nach künftigem Baugrund für Immobilienspekulanten aussieht), sind viel authentischer als Künstlerwohnanlage, auf jeden Fall anschaulicher und minder pittoresk als die Ansichtskartenbohème des Montmartre, wohin die Touristen in Scharen pilgern, weil Picasso mal da gewohnt hat. (Picasso? Dem hat Arno Breker das Modell ausgespannt. Oder war es mein Großvater, der Breker, seinem einstigen Kommilitonen an der Werkkunstschule das Modell ausgespannt hat? Flüchtige Anekdoten und unbewiesene Gerüchte sind alles, was ich zu fassen kriege. Tatsache ist: zur Zeit der NS-Diktatur hatte Breker Hochkonjunktur, Otto F. Reise- und damit prakSchwimmbad im Haustisch Berufsverbot, seine "entarteten" Bildwerke hatte man schon aus den Museen entfernt, und sie sind nie wieder aufgetaucht.) In Bouchers Künstlerasyl an der Rue Dantzig, vor dem Ersten Weltkrieg, kostete die Miete notfalls gar nichts, und die englische Wikipedia orakelt düster: "As well as to artists, La Ruche became a home to the usual array of drunks, misfits, and almost every penniless soul needing a roof over their head." Als am Montmartre dann irgendwann mal das Bateau-Lavoir abbrannte, vielleicht weil auf den Bildern von Braque zuviel geraucht wurde, zogen deren Bewohner auch in den Künstlerbienenkorb. An beiden Orten gewohnt haben angeblich Max Jacob und Modigliani. Und auch am Montmartre gab es einen Otto: Otto Freundlich aus Stolp in Pommern, der später in einem Pyrenäendorf, wo er untergetaucht war, von den Deutschen verhaftet, deportiert und in Majdanek grausam ermordet wurde. - Von La Ruche wird später an dieser Stelle mehr zu sehen sein (wenn die Fotos gescannt sind), aber von unserem Kurzausflug nach Paris wollte ich erst noch weitererzählen. Ein historischer Spaziergang durch das Marais, wie wir ihn im Sommer unter kundiger Führung meiner Liebsten unternahmen, führte unweigerlich auch in das jüdische Paris. Das Restaurant Goldenberg, in dem 1982 der schreckliche Terroranschlag stattfand, gibt es nicht mehr, inzwischen ist dort eine Kleiderboutique. Eine Gedenktafel erinnert an dieses Ereignis, bei dem sechs arglose Restaurantbesucher starben und über zwanzig verletzt wurden. Pizzeria im MaraisAber hebräisch gedruckte Bücher und koschere Pizza ("gibt es die denn?" fragten unsere Freunde, und wir brauchten nur auf den nächstliegenden Gourmettempel zu verweisen)Laden in der rue des Archives kann man in diesem Viertel immer noch haben, auch wenn der Librairiste offenbar lieber die mit Belag aus Mortadella und Rohmilchkäse per Expressmotorrad von "La Regatta" liefern lässt (oder gar Sushi - mit Meerestieren ohne Flosse und Schuppen!). Wir besichtigten das "La Pletzl" und fanden auch ein Haus, dessen Fassadenbeschriftung offenbar im 19. Jahrhundert schon piscine und Sauna verhieß - Wellness pur. Natürlich haben wir auch den Laden mit speziellen Süßigkeiten, Hochzeitstorten etc. nicht übersehen, sind aber mit Rücksicht auf die schlanke Linie nicht reingegangen, das Angebot wäre zu verlockend gewesen. Statt dessen wandten wir uns den wenigen mittelalterlich zu nennenden Bauten und der "rue des Archives" zu. Gegen das "Haus der Geschichte", das Sarkozy plant, habe ich mich in einer Protestliste eingetragen.Rue des Archives in Paris Darin sollen alle Archive zentralisiert werden, eins dieser Präsidentenprojekte, mit dem man sich einen unsterblichen Namen erwirbt. Wir wissen ja in Köln, was passieren kann, wenn zuviel wertvolles Archivgut an einem Ort lagert. Aber hab ich mir die Zeit genommen, mal ins Archiv reinzugehen und mir ein paar Quellen zur Künstlerkolonie oder wenigstens zum spanischen Exil der Delaunays anzuschauen? Mitnichten. Vielleicht fände ich in Madrid ein paar alte Zeitungen von 14-18, in denen der Großvater Karikaturen veröffentlicht hat, dann könnte ich den Porträtisten des mir jetzt endlich vorliegenden, im Juli 1945 nach seiner Abdankung gezeichneten Churchill noch besser identifizieren, denn die Urheberschaft der (nicht signierten) Skizze aus dem Churchill Heritage Fund wird letztlich nie vollends beweisbar sein, ebensowenig wie die der gerahmten Kulizeichnung an meiner Wand.


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